Das weiße Amulett
seinem Wagen.
Nur wenige Meter unter ihm hatte Karen das Telefonat unterbrechen müssen, weil der Zug in die Station La Motte Picquet Grenelle einfuhr und sie unbedingt eine der Ersten an der Tür sein musste. Der Zug bremste mit quietschenden Rädern. Mit einer schnellen Handbewegung öffnete Karen den Metallhaken der Tür und stürmte an den Menschen vorbei zum Durchgang der Linie 6. Mit Schrecken stellte sie fest, dass noch kein Zug am Gleis stand, und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis der nächste kam. Eine Minute? Drei Minuten? Wann würde der fremde Mann merken, dass sie sich nicht mehr in dem anderen Zug befand und in diese Richtung gelaufen war?
Da sah sie ihn auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise. Ihre Blicke trafen sich, und der Mann verschwand mit einem Lächeln um die Ecke des Metrodurchgangs. Karen schlug das Herz bis zum Hals. In weniger als einer Minute würde der Kerl sie erreicht haben. Wann, verdammt noch mal kam endlich der nächste Zug?
Mansfield hatte das Handy neben sich auf dem Beifahrersitz liegen. Er hoffte jede Sekunde auf einen neuen Anruf, aber es blieb still. Totenstill. Fluchend überfuhr er die zweite rote Ampel und war nicht mehr weit vom Arc de Triomphe entfernt. Würde Karen es schaffen?
Mit einem lauten Zischen fuhr der Zug in die Station La Motte ein. Karen hastete in das letzte Abteil, drückte sich in die Ecke und betete, dass ihr Verfolger sie nicht bemerken würde. Tatsächlich schlossen sich die Türen, ohne dass sie ihn gesehen hatte. Entweder hatte er den Zug verpasst, oder er war in ein anderes Abteil eingestiegen. Sie blickte auf den Linienplan über der Tür und zählte die Stationen bis zur Étoile. Es waren sieben. Das bedeutete zehn bis fünfzehn Minuten. Eine halbe Ewigkeit.
Einige Meter über ihr hupte Mansfield einen kleinen Renault von der Straße und raste auf der Avenue Marceau dem Arc de Triomphe entgegen. Er durfte nicht zu spät kommen.
Karen zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Türen sich öffneten und die Menschenmassen sich hindurchzwängten. Immer wieder warf sie einen ängstlichen Blick auf die Neuankömmlinge, aber ein Mann mit kurzen grauen Haaren und Stoppelbart war nie dabei. Endlich schlossen sich die Türen in der vorletzten Station. Sie wollte schon aufatmen, als sie ihren Verfolger im Nachbarabteil entdeckte. Er stand dort in unmittelbarer Nähe der Tür und hielt sich an einer Metallstange fest. Der Zug fuhr durch eine leichte Kurve, und der Fremde stieß gegen einen stämmigen jungen Franzosen, der ihn in ein kleines Streitgespräch verwickelte. Karen betete, dass der junge Mann ihn noch länger aufhalten würde. Sie öffnete als Erste die Tür, nachdem der Zug in die Metrostation eingefahren war. Wie von Sinnen schlängelte sie sich durch das Menschengewirr die Treppe hinauf, vorbei an den bunten reißerischen Kinoplakaten der neuesten Horrorfilme. Oben angekommen, bemerkte sie vor einem der Eingänge drei Männer in schwarzer Uniform und schwarzem Barett. Mit letzter Kraft rannte sie auf sie zu und bat atemlos um Hilfe, weil ein Mann in einem schwarzen Mantel sie verfolge. Die drei hielten sie für hysterisch, hatten aber im Augenblick nichts Besseres zu tun, sodass einer der Sicherheitsleute zur Treppe ging und sich nach einem verdächtigen Mann umblickte. Er sah auf die Menschenmenge – Touristen, Studenten und Afro-Franzosen, die ihm entgegenströmten, aber ein Mann in einem schwarzen Mantel war nirgends zu entdecken. Wieso sollte jemand auch im Sommer einen Mantel tragen? Die Frau musste sich irren. Er drehte sich langsam um und stapfte zum Eingang zurück. Mit einem leichten Kopfschütteln gab er zu verstehen, dass niemand hinter der Frau her war.
»Sie müssen sich getäuscht haben, Madame«, sagte er und stellte sich wieder breitbeinig neben seine Kollegen.
»Ich habe mich nicht getäuscht. Der Mann war im selben Zug.«
»Karen!«
Schwer atmend stand Mansfield an der Ecke des Metroeingangs und lächelte ihr erleichtert zu, während die Sicherheitsbeamten ihn misstrauisch beäugten, aber es schien keine Gefahr von ihm auszugehen. Die Frau reagierte auch nicht ängstlich auf ihn. Also wandten sie sich von den beiden ab und beobachteten weiter den Menschenstrom aus der Pariser Unterwelt.
Wie in Trance ging Karen auf Mansfield zu und ließ sich von ihm ans Tageslicht und zu seinem BMW bringen. Ihre Knie zitterten, aber sie schaffte es bis zum Wagen und war froh, sich endlich setzen zu können.
Als
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