Das weiße Amulett
Ferne, wo die Hitze die Luft schwirren ließ und der Wind sich an den Dünen kräuselte. Immer wieder wirbelte Staub auf und senkte sich einige Meter weiter zu Boden.
Alles verändert sich, alles bleibt erhalten, dachte Karen, und Rilke kam ihr in den Sinn, in dessen Buch sie auf dem Flug nach Ägypten gelesen hatte.
»… die Wüste, ungewiss, ohne Ende und ohne Anfang, wie Ungeschaffenes, Weiten, die manchmal aufstehen und überall sind, mit ihrem Nichts die Himmel zerstörend, ein Gewebe uralter Wege, die sich gegenseitig aufheben, ein Meer, dessen Ebbe bis auf den Grund, dessen Flut bis an die Sterne geht und ansteigt wie Jähzorn, unberechenbar, unbegreiflich, unaufhaltsam.«
Rilkes Worte gingen ihr noch durch den Kopf, während sie wie in einem langen Traum die beeindruckenden ockerfarbenen Sanddünen betrachtete, die ständig ihre Form und ihren Weg veränderten.
Die Wüste, wundervoll in ihrer einzigartigen Schönheit – und gefährlich.
Plötzlich ging ein lauter Knall durch den Wagen, und Karens Kopf schleuderte gegen das Seitenfenster. Der Toyota senkte sich nach rechts, scherte aus und blieb dann nach einer Vollbremsung am Straßenrand stehen.
»Sind Sie verletzt?«, fragte Mansfield.
Karen schüttelte den Kopf. »Es geht schon.«
Mansfield biss sich auf die Lippe. Die stundenlange Fahrt in der Wüste war nicht ohne Spuren an ihm vorübergegangen. Vier leere Literflaschen lagen hinter Karens Rücksitz, und es waren erst zwei Drittel des Weges geschafft.
»Okay, es ist nur eine Reifenpanne. Kein Problem. Wir haben genug Ersatzreifen mit.«
Mansfield kämpfte gerade mit einer verrosteten Drehschraube, als Karens Blick über seinen angespannten Körper wanderte. Der leichte Wüstenwind spielte mit seinem geöffneten Hemd, und ihr Blick streifte seine festen Muskeln. Dann wanderte er zu der Narbe an seiner rechten Seite, die rötlich schimmerte und ihre Gedanken wieder in die Realität zurückbrachte. Sie stand neben ihm, und schützte die öligen Schrauben vor dem Wüstensand, während er die Reifen austauschte. Zehn Minuten später konnten sie die Fahrt fortsetzen.
Die Sanddünen verschwanden allmählich, als sie in ein Gebiet kamen, das aus bizarren Kalksandsteinformationen bestand. Sie fuhren seit einer halben Stunde in diesem Felsengebiet, als einige hundert Meter vor ihnen ein weißer Van auftauchte, der schief am Straßenrand stand und von einer kleinen Gruppe Männer umringt wurde.
Mansfield knirschte mit den Zähnen. Er bereute es, sich in Kairo keine Waffe besorgt zu haben. Eigentlich war es Wahnsinn gewesen, allein in die Wüste zu fahren. Aber für Reue war es jetzt zu spät. Vielleicht hatte der fremde Wagen sich festgefahren, oder die Ägypter brauchten ein Werkzeug, das sie nicht mithatten. Doch er glaubte das nicht wirklich. Nicht einmal ein Messer hatte er sich eingesteckt, verdammt.
Wild gestikulierend standen vier Männer in ihren alten braunen Galabiyas vor dem Van, als einer von ihnen die anderen auf den herankommenden Toyota aufmerksam machte und sich alle mit lautem Rufen auf die Straße stellten.
Mansfields Augen suchten die Gegend nach einer Ausweichmöglichkeit ab, aber es gab nur die Straße. Rechts und links von ihnen waren haushohe Felsformationen. Sollte er stoppen und umkehren? Oder Gas geben und die Männer von der Straße jagen? Aber was war, wenn sie wirklich Hilfe brauchten? Wann würde der nächste Wagen auf dieser Wüstenstraße vorbeikommen? Er durfte ihnen die Hilfe nicht verweigern. Doch er hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
»Haben Sie noch das Reizspray in Ihrer Tasche?«, fragte er und bremste den Toyota langsam ab. »Wenn ja, dann holen Sie es jetzt raus und halten es griffbereit, es könnte sein, dass es gleich ein bisschen ungemütlich wird.«
Karens Augen bekamen einen leicht panischen Ausdruck, während sich ihre Finger um die Tasche auf ihrem Schoß krampften. Sie hatte eigentlich gehofft, dass das Überfall- und Entführungsszenario, das gerade in ihrem Kopf ablief, ein reines Fantasie- und Angstprodukt war, aber seine Frage schien ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Zudem zeigte er eine unheimliche Körpersprache, wie sie es noch nie an ihm beobachtet hatte. Sein Gesicht war ernst, sein Blick hart, der ganze Körper angespannt. Er schien wie verwandelt.
Karen sah auf die Handtasche und schüttelte den Kopf. »Die Dose war leer. Ich habe sie schon in Paris weggeworfen.«
»Shit!« Natürlich wusste Mansfield, dass das
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