Das weiße Amulett
der mit blutendem Kopf neben dem Felsen lag. Lebte er noch? Oder hatten sie ihn umgebracht? Der Sand neben seinem Gesicht färbte sich rot.
Was hatten sie mit ihr vor? Würden sie sie aus Habgier töten? Doch zunächst schien es nicht danach auszusehen. Man bog ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie. Dann stieß man sie mit boshaftem Lachen zu Mansfield. Sie strauchelte und fiel neben ihn in den Sand. Während sie in das bleiche Gesicht blickte, hoffte sie, dass er ihr etwas zuflüstern würde. Aber da war nichts. Kein vertrautes Flüstern. Kein Augenzucken. Nichts.
Karen brachte nur ein Krächzen hervor. Ihr Hals war völlig ausgetrocknet. »Michael? Michael! Hörst du mich?«
Doch er reagierte nicht.
Die Ägypter waren für einige Zeit mit dem Reparieren ihres Wagens beschäftigt und kümmerten sich nicht um Karen, die weiter auf Mansfield einredete.
»Michael! Bitte sag etwas!«, flehte sie schluchzend, doch dann kam einer der Männer und riß sie von ihm weg.
» Jálla! Los! Vorwärts!«
Verzweifelt musste Karen mit ansehen, wie die Ägypter Mansfield aufhoben und dreißig Meter neben der Straße in eine Felsspalte warfen.
»Nein!« Sie schrie und kämpfte gegen den Mann an, der sie nicht mehr zu bändigen wusste und schließlich mit einem gezielten Faustschlag ruhigstellte. Lautlos sank Karen auf den Rücksitz.
30
Als sie wieder erwachte, stieß ihr Kopf gegen etwas Hartes. Karen stöhnte leise auf. Sie konnte nichts sehen, da man ihr die Augen verbunden hatte, aber das Röhren eines Motors sagte ihr, dass sie immer noch in einem Wagen saß.
Sie spürte tausend Schmerzen. Ihr Kopf, ihr Rücken, die Arme, der gesamte Körper tat weh, doch all das war nichts gegen den inneren Schmerz, der ihre Seele zerriss. Dieses tiefe dunkle Loch, das sich wie ein Drachenmaul vor ihr öffnete und sie verschlang. Sie war am Ende.
Michael war tot. Ermordet von irgendwelchen Wüstenbewohnern. Umgebracht und weggeworfen wie Müll. Nie wieder würde sie ihn lächeln sehen. Sie begann zu schluchzen, und selbst die wütenden Worte ihrer Entführer konnten sie nicht daran hindern zu trauern. Es war ihr egal, was mit ihr geschah. Jetzt war ihr alles egal.
Sie schienen eine Ewigkeit unterwegs zu sein, ehe der Wagen hielt und man Karen in eine alte Lehmhütte schob. Einer ihrer Entführer nahm ihr die Augenbinde ab und stieß sie neben einem rissigen Stützbalken zu Boden. Ein starkes Seil, an dem man sonst anscheinend Vieh befestigte, wurde um ihr rechtes Bein gebunden, was Karen willenlos geschehen ließ. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren.
Nicht weit von Karens Gefängnis entfernt saßen einige Männer in einem Haus und tranken Minztee. Einer der Männer hatte eingeladen, denn am nächsten Tag sollte er heiraten, und viele seiner Verwandten waren ins Dorf gekommen, die er bewirten musste. Die Männer tranken Tee, rauchten Wasserpfeife, scherzten und erzählten viele Geschichten, als spät am Abend ein neuer Gast erschien. Er war etwa fünfzig Jahre alt, und in seinem Bart zeigte sich das erste Grau, das ihm ein ehrwürdiges Aussehen verlieh. Seine blütenweiße Galabiya war deutlich sichtbar aus feinem Stoff gefertigt, wie man ihn nur in Kairo kaufen konnte, und man merkte an den respektvollen und neidischen Blicken der Dorfbewohner, dass er eine Ausnahmeerscheinung war. Er grüßte alle höflich, aber distanziert, und setzte sich zu ihnen.
Die Gespräche wurden sofort wieder aufgenommen, und der Neue lauschte dem Klatsch der Dorfbewohner. Er rauchte seine shisha , als ihm plötzlich ein junger Mann hinter einem Türvorhang ein Handzeichen gab.
Der Ägypter sah sich im Raum um, aber niemand achtete auf den Jungen, dessen Augen ihn flehend anblickten. Mit einem Stirnrunzeln legte er die Pfeife zur Seite und ging zu ihm. Der junge Mann zog ihn zur Seite und flüsterte ihm rasch etwas ins Ohr. Wenn es im Flur nicht so dunkel gewesen wäre, hätte er sehen können, wie sich das Gesicht des Älteren verfinsterte.
»Ist das wirklich wahr, Hassan?«, fragte er streng, und seine Augen funkelten in der Dunkelheit. Doch der junge Mann hielt seinem Blick stand.
»Aiwa, bei Allah, ich schwöre es.«
Er führte den älteren Ägypter in einen kleinen Nebenraum und zeigte ihm eine Rolex, Geld, Kreditkarten, ein Djed-Pfeiler-Amulett und Schmuck, darunter eine goldene Kette mit einem altägyptischen Anhänger, den der Alte zwischen die Finger nahm und im Licht einer Kerze betrachtete. Ungläubig wanderten seine
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