Das weiße Amulett
Wahrheit wurde und die Götter besänftigte. Zusätzlich trugen sie als Zeichen der Reinheit ausschließlich feine weiße Leinengewänder.« Dawson sammelte die Fotos mit den Mumien wieder ein und legte sie in die schwarze Mappe zurück.
»Wann können wir das neue Grab besuchen?«
»Mr Kennard hat heute Nachmittag um sechzehn Uhr vorgeschlagen, wenn es Ihnen passt?«
»Dann könnten wir uns vorher noch ein wenig Luxor anschauen«, schlug Mansfield Karen vor, die dazu nickte.
»Was meinen Sie, Mr Dawson, lohnt sich auch ein Besuch des Souk?«
Dawson seufzte. »Schrecklich viel billiges Zeug dort, wenn Sie mich fragen. Echte Altertümer und antike Stücke werden Sie nicht finden. Höchstens gut gemachte Repliken, die als Erinnerungsstücke ihren eigenen Wert haben. Übrigens tragen Sie da eine sehr interessante Kette, Mrs Alexander. Es ist Maat, nicht wahr, die Göttin mit der Straußenfeder auf dem Kopf. Eine ausgezeichnet gearbeitete Replik, wenn Sie mich fragen …«
Karen wurde rot und ärgerte sich über das T-Shirt mit dem weiten V-Ausschnitt, das sie heute angezogen hatte, sodass der seltene Anhänger von jedem zu sehen war. Hoffentlich wollte Dawson ihn nicht genauer betrachten.
»Es ist nur ein Geschenk meines Patenonkels in Deutschland«, entgegnete sie und hoffte damit sein Interesse im Keim erstickt zu haben. Tatsächlich wandte er sich an Mansfield und erklärte ihm die wichtigsten Attraktionen des Tempels von Luxor.
»Sie müssen sich unbedingt den großen Säulenhof mit der Papyrussäulen-Kolonnade ansehen. Und die Darstellungen des Opet-Festes. Schauen Sie sie sich an, solange es sie noch gibt«, sagte er mit einem resignierenden Unterton.
»Warum? Was ist mit den Tempeln?«
Dawson spielte mit einem Bleistift, den er auf dem Tisch wie einen Kreisel um die eigenen Achse drehte.
»Der Staudamm macht den Tempeln und Gräbern sehr zu schaffen. Wir gehen davon aus, dass alle ägyptischen Tempel in zweihundert Jahren nicht mehr vorhanden sein werden.«
»Sie meinen den Staudamm südlich von Assuan? Aber warum? Der ist doch so weit entfernt. Was hat er mit den Tempeln zu tun?«, fragte Mansfield.
»Er hat leider sehr viel mit ihnen zu tun. Durch den Bau des Staudamms hat sich das Klima verändert, und der Grundwasserspiegel ist gestiegen, und zwar in ganz Ägypten. Dadurch ist die Feuchtigkeit nach oben in die Steinwände der Tempel und Felsschichten der Gräber gedrungen, wo sie Salzkristalle bildet und die Malereien der Gräber zerstört. Die Salzkristalle bilden sich unterhalb der Stuckschicht und wachsen dort Millimeter für Millimeter, bis sie den Stuck von der Wand sprengen und damit die Grabmalereien ruinieren. Im Grab der Nefertari, der Lieblingsfrau Ramses’ II., haben wir versucht die Zerstörung aufzuhalten und haben das Grab restauriert. Aber die Feuchtigkeit ist in den Felsen, und sie wird immer wieder neue Kristalle bilden. Immerhin haben wir die ägyptischen Behörden dazu überreden können, nur noch eine begrenzte Anzahl von Touristen ins Grab zu lassen. Wussten Sie, dass ein Mensch zwei Tassen Feuchtigkeit durch seine Atemluft und seinen Schweiß in einem Grab hinterlässt? Und wenn man bedenkt, dass jeden Tag zehntausend Touristen das Tal der Könige besuchen … Sie können sich sicherlich vorstellen, was für einen Schaden diese Feuchtigkeit zusätzlich in den Gräbern anrichtet. Zum Glück sind inzwischen einige Gräber vorübergehend geschlossen worden, aber gegen den steigenden Grundwasserspiegel sind wir leider machtlos. Der Staudamm bringt dem modernen Ägypten zweifellos viele wirtschaftliche Vorteile und Elektrizität, aber er zerstört auf Dauer Ägyptens zweiten Wirtschaftsfaktor, den Tourismus. Unsere Urenkel werden nicht mehr dasselbe zu sehen bekommen wie wir, da bin ich mir ganz sicher.«
»Das ist deprimierend!«, sage Karen und musste an die vielen Tempel in Luxor, Abydos und Dendera denken, die dreitausend Jahre überdauert hatten, nur um jetzt durch den modernen Menschen zerstört zu werden.
»Ja, das ist es«, erwiderte Dawson. »Aber was sollen die Ägypter tun? Der Staudamm ist ihre Fahrkarte in die moderne Welt. Ohne ihn wäre das Land noch ärmer, als es ohnehin schon ist. Sie müssen Getreide einführen, weil die Ackerflächen am Fluss nicht genug einbringen, um die gesamte Bevölkerung zu ernähren. Durch den Staudamm wird der Wasserstand des Nils jetzt genau kontrolliert. Er wird immer gleich gehalten. Die regelmäßige Nilüberschwemmung, wie es
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