Das weiße Amulett
frei.
35
Luxor
Benjamin Dawson war ein hochgewachsener Mann Ende vierzig mit schütterem Haar, der bereits seit fünfzehn Jahren für die American University of Cairo arbeitete. Er war Karen als Verbindungsperson zu George Kennard, dem Chefarchäologen von KV78, genannt worden und bot seinen Gästen mit einem freundlichen, aber reservierten Lächeln zwei Holzstühle in seinem Büro an. Seine Freundlichkeit war ein wenig aufgesetzt, denn es irritierte ihn, dass Escard diesen beiden Menschen die geheimen Informationen über das neue Grab gegeben hatte. Er musste sehr viel Vertrauen zu ihnen haben. Dawson hoffte, dass die beiden dieses Vertrauen auch verdienten.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie wissen also von dem Grab und der königlichen Familie? Und Sie sollen einige der Amulette und Uschebtis nach Paris überführen, wenn ich Mr Escard richtig verstanden habe? Gut. Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?«
Karen versuchte sich an das Gespräch zu erinnern. »Er zeigte mir einen Brief von Mr Kennard, in dem dieser Monsieur Artois, dem Rektor der Sorbonne mitteilte, dass man im Tal der Könige eine Cachette mit zwölf Mumien gefunden habe.«
»Erzählte er Ihnen noch mehr über die Mumien?«
»Nur, dass es sich anscheinend um eine ganze Königsfamilie handle, was sehr ungewöhnlich sei. So etwas hat es seit dem Grabfund von Amenophis II. nicht mehr gegeben, oder?«
Dawson stutzte. »Sie haben sich über die Pharaonengräber informiert?«
»Ich habe vier Semester Archäologie in Heidelberg studiert. Außerdem interessiere ich mich auch privat für das alte Ägypten.«
Er nickte und war zumindest beruhigt, dass seine Besucher über einige Kenntnisse zu verfügen schienen.
»Gut. Dann sehen Sie sich diese Fotos an.« Er nahm eine Mappe mit schwarzem Schutzumschlag zur Hand, aus der am unteren Rand viele Papiere hervorschauten, blätterte darin und griff zielstrebig nach einigen Fotos, die er vor Karen und Mansfield auf dem Tisch ausbreitete.
Sie nahmen die Bilder in die Hand und betrachteten sie sehr genau.
»Nun, was halten Sie davon?« Seine Stimme konnte eine gewisse Spannung nicht unterdrücken. Er hatte diese Aufnahmen noch nicht vielen Menschen gezeigt und freute sich, mit jemandem über das Thema sprechen zu können.
Mansfield betrachtete ein dunkles Schwarzweißfoto mit dem mumifizierten Oberkörper eines Mannes. Es zeigte kaum noch Haare. Die Wangen waren eingefallen, und die Knochen zeichneten sich stark gegen die pergamentartige Haut ab.
»Die Mumie sieht ziemlich normal aus, finde ich. Was soll daran besonders sein?« Er reichte das Foto an Karen weiter.
Dawson lächelte. Er war über die Aussage nicht überrascht. »Wie alt schätzen Sie sie?«
»Keine Ahnung, zweitausend Jahre, dreitausend Jahre.«
»Nein, das meine ich nicht. Wie alt schätzen Sie das Alter des Menschen, als er starb?«
Mansfield schaute noch mal genau hin. »Das kann man schlecht sagen. Das Einbalsamieren macht alle Menschen irgendwie gleich.«
Dawson legte unwillkürlich die Fingerspitzen aneinander, während er seine Gäste ansah. »Nun, nach unseren neuesten Erkenntnissen war dieser Mann hundertvierzig Jahre alt, als er einbalsamiert wurde.«
»Hundertvierzig Jahre?«, fragte Mansfield ungläubig. »Meinen Sie nicht, dass Ihre Geräte Ihnen einen Streich spielen?«
Dawson schüttelte den Kopf. »Das wurde natürlich mehrmals überprüft, aber wir kommen immer wieder zum selben Ergebnis. Auch unsere Kollegen aus der Schweiz und Amerika melden ein Alter der Mumie zwischen hundertfünfunddreißig und hundertzweiundvierzig Jahren. Ein Fehler ist bei so vielen unabhängigen Tests ausgeschlossen.«
»Nicht schlecht für die damalige Zeit«, sagte Mansfield anerkennend. »Aber soweit ich weiß, wurde Ramses II. auch über neunzig Jahre alt, oder?«
»Die Angaben schwanken zwischen neunzig und sechsundneunzig Jahren. Aber auch Pepi II. und der Amunpriester Nebnetjeru wurden über neunzig Jahre alt.« Dawson beugte sich nach vorn. »Doch bisher hatten wir noch keine Mumie, die über hundert Jahre alt war – und jetzt haben wir zwölf Stück auf einen Schlag.«
Karen bekam eine Gänsehaut, obwohl es im Zimmer heiß war. Sie sprach kein Wort, während die beiden weiterredeten.
»Sie sollen alle derselben Familie entstammen. Vielleicht haben sie ziemlich gesunde Gene gehabt«, meinte Mansfield und sah von einem Foto zum anderen.
»Das kann schon sein. Aber es hat wohl nicht nur an den Genen gelegen. Hier,
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