Das weiße Grab
ihren Polizeiausweis studiert hatte, erlaubte sie der jungen Frau, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, während sie sich weiter mit ihren Papieren beschäftigte, als wäre sie immer noch allein. Als sie fertig war und die Dokumente sorgsam in zwei Mappen verstaut hatte, sah sie angespannt auf ihre Uhr und sagte: »Ich bin schon acht Minuten hinter meinem Zeitplan. Mein nächster Bürger ist nur zwei Straßen entfernt, aber danach muss ich nach Viby, da hätten wir unterwegs dann ein bisschen Zeit, wenn Sie warten können.«
»Ich warte gerne.«
Die Frau ließ den Motor an und fuhr routiniert durch den dichten Mittagsverkehr.
»Bürger, ja. So nennen wir die. Uns kommt das ganz normal vor, dabei muss das auf Sie doch wirken wie aus den Tagen der Französischen Revolution. Sie können im Auto sitzen bleiben, auch wenn das gegen die Regeln ist, aber der Kriminalpolizei sollte man ja vertrauen können.«
Sie hatten ihren Bürger bald erreicht, und die Frau stieg hastig aus.
»Bei dem hier brauche ich höchstens eine Viertelstunde, mit etwas Glück kann ich da ein oder zwei Minuten gutmachen. Ich muss nur einen Verband wechseln.«
Als siebzehn Minuten vergangen waren, fühlte Pauline Berg sich gestresst.
Auf der Fahrt nach Viby hatten sie endlich Zeit, miteinander zu reden.
»Sie waren 1983 auf der amerikanischen Basis in Søndre Strømfjord und haben dort mit Maryann Nygaard zusammengearbeitet?«, fragte Pauline Berg.
Das Zeitschema der Frau besagte, dass sie nun zwanzig Minuten Fahrt vor sich hatten, so dass sie das Gespräch nicht zu forcieren brauchte, weshalb sie mit dem Grundlegenden begann.
»Ja, wir haben dort als Krankenschwestern gearbeitet. Sie und ich. Es war eine der
base rules,
dass alle Positionen doppelt besetzt sein mussten, auch wenn die Arbeit kaum für eine halbe Stelle gereicht hat. Die US -Air-Force ist eine seltsame Mischung aus verblüffender Effektivität und ungeheurer Vergeudung.«
»Wie lange waren Sie in Grönland angestellt?«
»Von 1980 bis 1984 .«
»War es schwer, dort eine Arbeit zu bekommen?«
»Nicht besonders, nicht als Krankenschwester. Grundvoraussetzung war, dass man ganz gut Englisch sprach und einigermaßen verträglich war. Es gab damals aber auch das Gerücht, dass man politisch nicht zu extrem sein durfte – also Kommunist oder so was, aber ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt.«
»Sie wissen, was mit Maryann Nygaard passiert ist?«
»Natürlich weiß ich das. Sie ist im Eis gefunden worden, von der deutschen Kanzlerin. Ich habe aber versucht, nicht allzu viel daran zu denken. Und irgendwie hat das auch geklappt, schließlich ist das lange her, irgendwie war das ein anderes Leben.«
»Wie sind Sie miteinander ausgekommen?«
»Schlecht, wir haben um alles und jeden konkurriert.«
»Wer die bessere Krankenschwester ist?«
»Nee, um die Männer, aber da hat sie erdrutschartig gewonnen.«
»Hatte sie viele Männer?«
»Maryann kriegte in der Regel, wen sie haben wollte. Sie ist deshalb aber nicht mit jedem ins Bett gegangen, wenn Sie das meinen. Vermutlich waren wir auch nicht anders als andere Mädchen in unserem Alter. Auch wenn wir viel Freizeit hatten und es eine Menge Partys mit viel billigem Alkohol gab. Ganz zu schweigen davon, dass das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Männern und Frauen für uns äußerst günstig war, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Hm, ich denke, ich verstehe Sie. Erinnern Sie sich noch daran, ob Maryann irgendwelche Freundinnen hatte? Oder Freunde. Ich meine Leute, denen sie vertraut hat.«
Die Frau antwortete, ohne zu zögern: »Ja, das hatte sie. Eine Freundin, die war halb Grönländerin, halb Dänin. Sie war, wenn das überhaupt ging, noch hübscher als Maryann, ein großgewachsenes, attraktives Mädchen. Sie hat in Aarhus studiert und ein Sabbatjahr gemacht, aber an ihren Namen erinnere ich mich nicht mehr, nur an ihren Spitznamen. Fast alle hatten damals Spitznamen. Mag sein, dass das künstlich oder gezwungen wirkte, aber heute erinnere ich mich trotzdem nur noch an diese Spitznamen.«
»Und ihr Spitzname, wie lautete der?«
»Zwei Meter Liebe.«
»Und Sie wissen nicht, wo ich Zwei Meter Liebe … also diese Freundin heute finden kann?«
»Nein, keine Ahnung. Ich weiß nur noch, dass sie ständig gelesen hat, vermutlich hat sie heute irgendetwas mit Büchern zu tun. Es würde mich nicht wundern, wenn sie Bibliothekarin, Buchhändlerin, Übersetzerin, Redakteurin oder so was wäre …«
Pauline Berg
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