Das weiße Grab
Planken des Tisches hindurch als verzerrte Parallelogramme auf den Asphalt fielen, und er folgte dem Gespräch ruhig und geduldig, ohne die beiden zu unterbrechen. Nach einer Weile näherte sich Hans Svendsen vorsichtig wieder der Gegenwart: »Ich habe zwei Freunde mitgebracht. Sie kommen von der Polizei in Kopenhagen, und der eine von ihnen würde dir gerne ein paar Fragen stellen.«
»Gleich zwei, Hans? Bin ich so interessant?«
»Du bist immer ein umschwärmtes Mädchen gewesen, Rikke. Ist es in Ordnung, wenn einer der beiden dir jetzt ein paar Fragen stellt? Er hat es ein bisschen eilig, du weißt ja, wie die in der Großstadt sind.«
»Das darf er gerne, Jeanette hat mir erklärt, um was es geht. Aber über das andere da … darüber würde ich am liebsten nicht reden, du weißt schon.«
»Das verstehen wir alle, Rikke. Er interessiert sich auch nur für den Überfall.«
Er nickte Konrad Simonsen zu, der alle damit überraschte, Hans Svendsens Ton und Stil auf beinahe unangenehme Art zu treffen.
»Ich heiße Konrad Simonsen, aber Sie dürfen mich gerne Konrad nennen. Ich darf Sie doch Rikke nennen, oder?«
Konrad Simonsen hätte wirklich ein Einheimischer sein können. Ohne das Gespräch jemals zu forcieren, sprach er langsam und ruhig mit der nervösen, blinden Frau, deren Stimme bald wieder die normale Tonlage erreicht hatte. Nur ein einziges Mal irrte er sich, indem er ihre Enkelin Pauline nannte und nicht Jeanette, aber dieses Missverständnis wurde schnell ausgebügelt und vergessen. Erst nachdem Arne Pedersen mehrere Male auf seine Uhr geblickt hatte und sogar Hans Svendsen erste Anzeichen von Ungeduld zeigte, näherte sich Konrad Simonsen dem Thema, wegen dem er eigentlich gekommen war.
»Rikke, könnten Sie mir von damals erzählen, 1977 , als Sie überfallen wurden?«
»Ja, das kann ich, Konrad. Ich wohnte damals draußen in Kikhavn, zusammen mit meinen Eltern und mit … Jeanettes Mutter. Sie war damals aber noch ganz klein. Einmal abends war ich allein zu Hause. Es war ein Dienstag im Mai, das weiß ich noch, und die anderen waren im Kino, als plötzlich ein Mann hinter mir in der Küche stand. Noch bevor ich reagieren konnte, hatte er mich an die Anrichte und meine Arme auf den Rücken gedrückt. Ich weiß nicht, ob ich geschrien habe, bestimmt habe ich das, aber es war ja weit bis zum nächsten Nachbarn, so dass mich niemand hören konnte. Er band meine Hände mit diesem breiten, silbernen Klebeband zusammen … wie heißt das noch mal?«
»Gaffer Tape?«
»Ja, genau. Danach hat er mir einen Lappen in den Mund gesteckt, damit ich nicht mehr schreien konnte. Das Ganze ging verdammt schnell, und ich hatte eine Wahnsinnsangst. Er war so furchteinflößend. Ich habe mir vor Angst in die Hose gemacht, außerdem trug er eine Maske.«
»Ja, das habe ich schon gehört. Und diese Maske interessiert mich sehr, erinnern Sie sich noch daran, wie sie ausgesehen hat?«
»Schrecklich, wie so ein Gespenst. Sie war selbstgemacht: aus schwarzem Karton ausgeschnitten, glaube ich, wie Kinder das für Fastnacht machen. Mit Löchern für die Augen.«
»Konnten Sie die Maske erkennen? Ich meine, sollte sie irgendeine Figur darstellen?«
»Ich kannte sie nicht. Rund um den Kopf und über den Haaren hatte er so ein grauschwarzes Tuch. Das gehörte zu der Maske.«
»Sein Gesicht haben Sie nicht gesehen?«
»Nein. Nur seine Ohren und einen Streifen seiner Stirn zwischen Maske und Tuch.«
»Trug er Handschuhe?«
»Ja, die waren auch schwarz.«
»Hat er etwas zu Ihnen gesagt?«
»Nein, nicht im Haus. Erst als wir unten am Strand waren.«
»Er hat Sie mit zum Strand genommen?«
»Ja, er hat mich nach draußen gezerrt und mich vor sich hergestoßen. Wir rannten fast. Ein paarmal bin ich hingefallen, so dass er mich wieder hochziehen musste.«
»Hat er Sie auch an den Haaren gezogen?«
»Nein, nur an den Kleidern und auch nicht brutal, er wirkte eher entschlossen.«
»Wie war das mit dem Licht, es muss doch dunkel gewesen sein, so weit draußen, wie Sie gewohnt haben?«
»Er hatte eine Taschenlampe dabei und führte mich eine ganze Weile über den Strand, bis er schließlich stehen blieb. In diesem Moment wusste ich, dass ich sterben sollte, also, dass er mich töten würde.«
»Sie glaubten, dass er sie töten würde?«
»Nein, ich habe das nicht geglaubt, ich war mir vollkommen sicher, und das bin ich auch noch heute. Er hatte nämlich ein Grab für mich ausgehoben. Ein tiefes Loch im Sand, und das
Weitere Kostenlose Bücher