Das weisse Kaenguruh
Leben genießen. Er reiste durch die Welt und zog um die Häuser. Er las viel, hörte noch mehr Musik und vögelte mit anständiger Regelmäßigkeit. Er kümmerte sich um seine Freunde, lernte neue kennen, spielte Backgammon mit seinem Besten Florian, baute während des Sommers Gemüse an und nahm im Winter mindestens zweimal in der Woche ein Bad. Er sammelte weiterhin leidenschaftlich rostige Sachen, hielt den Kontakt zu seinen Eltern aufrecht, lernte an der Volkshochschule Schreibmaschinenschreiben und beschäftigte sich ein gutes Jahr lang relativ intensiv mit dem Themenbereich der Astronomie. Schließlich wurde er auch noch ein glühender Fan von Muhammad Ali. Nachdem er eine Dokumentation über diesen Heiligen gesehen hatte, kaufte er sich einen Boxsack und fand ihm zu Ehren seinen Sport. Was man nicht alles so macht, wenn man glaubt, Zeit zu haben, und dabei nicht aufs Geld schauen muß.
Doch dann passierte etwas, was sein ganzes Leben mit einem einzigen, riesigen Knall aus der Bahn warf. Billy verliebte sich. Bedingungslos und ohne Ausweg. Es passierte absolut unerwartet und ausgerechnet vor einer Übung zur deskriptiven Statistik. Er hatte beim ersten Anlauf seinen Schein nicht bestanden und mußte daher noch einmal antreten. Es war Anfang November und Lust hatte Billy keine. Im Sommer war er noch für sechs Wochen in Mittelamerika gewesen (Semesterferien!), und die Tatsache, jetzt wieder zurück im herbstlichen Deutschland zu sein und sich in einem muffigen Hörsaal mit Sterbewahrscheinlichkeiten auseinanderzusetzen, war für ihn schlimmer als die Vorstellung des Sterbens an sich. Aber es ging nicht anders. Ihn brauchte zwar keiner, aber er brauchte den Schein.
Die Übung wurde von einem Doktoranden abgehalten, der Schliebusch hieß und vor allem eines war – wahnsinnigattraktiv. Er war ein großer, akademischer Beau mit gutsitzender Frisur, eleganten Klamotten und einem lasziven Timbre in der Stimme, das sich anhörte, als wäre Schliebusch in Wahrheit der weiße Barry White. Selbst Billy als überzeugter Heterosexueller fand, daß es sich bei Schliebusch um einen ausgesprochen hübschen Kerl handelte. Wobei ihm das grundsätzlich völlig egal war. Im Gegensatz zu seinen Kommilitoninnen. Unter vielen weiblichen Studenten hatte sich nämlich sehr schnell herumgesprochen, daß hier – ausnahmsweise einmal – ein betriebswirtschaftlicher Sexgott am Werk war, und dementsprechend zahlreich pilgerten seine Jüngerinnen dann auch jede Woche in seine Übung, um für neunzig Minuten gebannt an seinen Lippen zu hängen. Sprich nur ein Wort und mein Schritt wird gesund. So machte Lernen Sinn.
Schliebusch ließ die Ladies nicht hängen. Er wußte, was er an sich hatte. Während seiner Übungen kochte er geradezu vor pathologisch guter Laune, gab sich selbst bei den dümmsten Fragen maßlos geduldig und schenkte seinen weiblichen Fans auch nach Ende seines Auftritts noch seine ungeteilte charmestrotzende Aufmerksamkeit. »Fragen Sie ruhig, junge Frau. Es freut mich doch auch, wenn ich Ihnen helfen kann.«
Billy fand es zum Kotzen. Trotzdem wurde seine Laune nicht nachhaltig getrübt. Er wollte schließlich nur den verdammten Statistik-Schein schaffen, und die Übung an sich war wirklich nicht schlecht. Schliebusch war zwar unerträglich selbstverliebt, aber didaktisch konnte man ihm nichts vorwerfen. Er erklärte den Stoff so, daß selbst Billy halbwegs folgen konnte. Und für dieses seltene Gefühl nahm er gerne in Kauf, daß ständig irgendwelche Mädels vor ihm nervös auf ihren Stühlen herumrutschten.
Die Übung fand jeden Mittwoch um 14 Uhr c. t. statt, zu einer Zeit, die Billy sehr entgegenkam. So konnte er gemütlichausschlafen, nach seiner Morgengymnastik ausgiebig frühstücken und dann ohne Eile ins Auto steigen und in die Uni fahren. Pünktlich kam er allerdings fast nie. Dafür blieb seine Motivation dann doch zu oft im Stau stecken. Und an jenem Mittwoch war das nicht anders. Er hatte sich seinen Wecker auf zehn Uhr gestellt und war nach fünf mal sieben Minuten Snoozing auch tatsächlich aufgestanden. Trotzdem kam er mal wieder zu spät. Schuld daran hatten die Schweden. Billy hatte sich für den Winter ein neues Auto gekauft (einen Volvo 245 Kombi von 81, in beige und mit braunen Velourssitzen), das sich jedoch von Beginn an als komplette Fehlinvestition entpuppte. Ständig ging an der Karre irgend etwas kaputt. An diesem Morgen war es der Kühler, der sich mitten auf der Autobahn nach Köln
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