Das Weisse Kleid Des Todes
wäre haarscharf einer Anzeige wegen Trunkenheit und Hausfriedensbruch entgangen.«
»Wird erledigt, Chief.«
»Wir fahren jetzt raus zum Kill. Wollen mal nachsehen, ob sich heute Nacht noch anderes Junggemüse zum Idioten macht. Ende.«
»Verstanden, Zehn-siebenundfünfzig. Zum Kill. Ende.«
Russ hängte das Mikro ein und schnallte sich an.
»Sie müssen mir etwas erklären«, sagte Clare, während sie ihren eigenen Gurt anlegte. »Was genau ist der Kill?«
»Hm?« Er warf ihr einen Blick zu. »Sie meinen, wie in ›Millers Kill‹?«
»Ja. Was ist das?«
»Kill ist ein alter holländischer Ausdruck für einen seichten Fluss oder großen Bach. Viele Städte hier oben im Staat New York haben ›Kill‹ in ihrem Namen – Fishes Kill, Eddys Kill … Unser Kill läuft vom Hudson zum Mohawk Canal.«
»Ein großer Bach? Ich bin schon ein paarmal darüber gefahren, und auf mich wirkt er eher wie ein ausgewachsener Fluss.«
»Er wurde beim Bau des Kanalsystems, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, ausgehoben. Zwischen dem Schifffahrtsweg und den Mühlen entstand dann die Ortschaft. Mann, wenn Sie hier leben wollen, dann müssen Sie dringend was über die Geographie und die Geschichte lernen. Mal sehen, ob ich ein paar Bücher für Sie auftreibe.«
Er wandte sich ab und fädelte sich in den Verkehr ein. Sie fuhren langsam den Strip hinab Richtung Westen, vorbei an Bars, einer Spirituosenhandlung und einer Pfandleihe mit fest verschlossenen Rollläden. An den ramponierten alten Laternenpfählen hingen keine Zuckerstangen und Rentiere.
»Warum haben Sie den Jungen nicht festgenommen?«, fragte Clare.
»Ich kenne die Stoners. Sein Dad ist Milchviehzüchter, hat eine fünfunddreißig, vierzig Morgen große Farm, die kaum die Familie ernährt. Ethan ist kein übler Junge.« Russ blinkte, bog in eine schmale Straße ab und fuhr an zwei dunklen, mit Brettern vernagelten Lagerhäusern vorbei. Eine zweite Kurve führte zu den Parkplätzen hinter den Gebäuden. Die Scheinwerferkegel fielen auf zerwühlten Schnee und Reifenspuren, die sich aufs Geratewohl überschnitten. »Er ist genau wie hundert andere junge Burschen in dieser Gegend. Sie saufen, nehmen Drogen, verursachen Autounfälle und geraten in Schlägereien, weil sie mit ihrem Leben nichts anzufangen wissen.«
Russ fuhr langsam aus dem Parkplatz heraus. Das Heck schlingerte, und er pflügte sich durch den Schnee. »Gibt hier nichts für Durchschnittsteenager mit High-School-Abschluss, aber ohne Geld fürs College.« Zurück auf der Mill Street, steuerte er wieder Richtung Westen. Clare beobachtete durch das Fenster, wie die Industriegebäude schäbig-gutbürgerlichen Häusern wichen. Selbst gezimmerte, in verschneite Rasen gerammte Tafeln zeugten vom Kampf ums tägliche Überleben: Kinderhort »Lämmchen«; Puppenhäuser nach Maß; Transport-, Räum-und Abschleppdienst; Wild, fertig zubereitet.
»Vor dreißig Jahren hätte dieser Junge in eins der Textilwerke am Kill marschieren und gutes Geld verdienen können, oder zu einem der großen Milchfarmer in der Umgebung. Hätte sich was sparen können, um selber mal Land zu kaufen. Oder er wäre zur Army gegangen.« Russ kniff sich unter der Brille in den Nasenrücken. »Wenn er wollte, hatte ein junger Kerl allemal die Chance, einen Beruf zu erlernen oder Geld fürs College zu verdienen.«
Die Häuser wurden spärlicher und lagen weiter auseinander. Russ und Clare passierten die letzte Straßenlampe und fuhren in die Dunkelheit. »Das ist die Route One-Thirty-seven. Wir nennen sie die Cossayaharie Road«, erklärte er. Die Fichten und Erlen drängten sich an den Straßenrand heran, und hinter den Bäumen begrenzten die Ausläufer des Adirondack-Gebirges ringsum den Horizont. Die dunklen Hügel sahen im Sternenlicht wie Wale aus, die das Meer durchpflügten: alt und mächtig.
Der Wagen hüllte Clare und Russ in einen Wärmekokon, machte sie zu Reisegefährten in die Wildnis. Clare öffnete den Reißverschluss ihres Parkas und streckte die Beine aus. Russ’ große, klobige Hände schimmerten in der Beleuchtung der Armaturen und beherrschten sicher das Lenkrad. »Vor dreißig Jahren, da konnte man nach der Schule noch heiraten, ein Haus kaufen und eine Familie gründen. Und man musste nicht weggehen aus dieser Gegend. Aber heutzutage hat Ethan Stoner nichts zu tun, wenn er nächstes Frühjahr seinen Abschluss macht, außer vielleicht als Teilzeitkraft Burgers auf dem Grill wenden. Also fährt er mit seiner alten
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