Das Weisse Kleid Des Todes
nein.« Er riss fast einen Busch aus, der ihn vor einem Sturz in den Fluss bewahrte. Clare behielt ihre Lampe fest in der Hand. Sie war nicht sicher, ob sie sich bewegen konnte. Russ ging an dem verschneiten Ufer in die Hocke und beugte sich über die … Ihr Verstand versuchte, das Wort auszuschalten: Leiche.
»O nein. O Gott, o nein.« Eine Sekunde lang beugte er sich noch tiefer vor. Sie konnte ihn im Licht seiner Stablampe sehen. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Dann richtete er sich auf, wischte sich das Gesicht ab und drehte sich zu ihr um. »Es ist ein Mädchen. Es ist tot.«
4
C lare presste sich ihre behandschuhte Faust auf den Mund. Ihre Stablampe zitterte nicht. Russ richtete seinen Lichtstrahl zu ihr hoch, so dass ihr das Licht in die Augen stach und sie blinzelte. »Clare? Sind Sie okay?«
Sie nickte. Sie konnte Russ nicht sehen, aber sie fühlte seinen Blick auf sich und glaubte, dass er die kleine Bewegung nicht unbedingt wahrnehmen würde.
»Ja, alles in Ordnung«, sagte sie. »Was soll ich tun?«
»Schaffen Sie’s allein zurück zum Wagen, um Hilfe zu rufen? Ich muss das Gebiet absichern und sehen, ob ich irgendwas finden kann, bevor – bevor sie kommen, um sie wegzuschaffen.«
»Soll ich das Funkgerät einschalten und nach Harlene fragen?«
»Ja. Sagen Sie ihr, wir hätten am Uferweg eine Leiche entdeckt, etwa eine Viertelmeile flussaufwärts von Payson’s Park. Können Sie das?« Sie nickte. »Tapferes Mädchen«, sagte er.
Clare konnte es sich nicht verkneifen, noch einmal diese Hand anzusehen: so blass und regungslos, wie aus Schnee geformt. »Es schneit’ und schneite, mehr und mehr«, hieß es in dem alten Kirchenlied. Sie erkannte ein Stück Ärmel, der im wirren Gestrüpp verschwand. Wer immer dieses Mädchen war, es musste zur Hälfte im Wasser liegen. War sie gesprungen? Hatte sie sich die Sache anders überlegt und versucht, sich herauszuziehen? Clare blinzelte, um ihren Blick wieder klar zu bekommen, und pumpte ihre Lungen mit schneidender, trockener Luft voll. So schnell sie konnte, lief sie durch den Schnee am Flussufer zurück. Die Bäume drängten sich ihr in den Weg. Sie rutschte und schlitterte, aber sie versuchte, nicht auszugleiten und ihr Tempo zu halten. Zu ihrer Linken wirbelte Schnee hoch. Außer Atem schrie sie auf und ließ fast ihre Stablampe fallen. Ein Reh sprang in den Lichtstrahl und verschwand in einer Wolke aus Schnee. Mit rasendem Herzen, das ihr die Brust zu sprengen drohte, taumelte Clare vorwärts.
Schließlich hatte sie es geschafft. Ihre heißen Knie schmerzten von mehreren Stürzen, als sie zu dem Streifenwagen kam. Sie rutschte auf den Sitz, schaltete das Funkgerät ein, und als sie hörte, wie die Frau in der Zentrale sich meldete, drückte sie die Sprechtaste und sagte genau das, was Russ ihr aufgetragen hatte. Harlene legte sie scheinbar eine Ewigkeit auf die Warteleitung.
»Okay, Reverend. Ich habe einen Rettungswagen losgeschickt und Dr. Dvorak im städtischen Leichenschauhaus Bescheid gesagt. Officer Flynn ist raus, um mitzuhelfen, und die Staatspolizei schickt einen Wagen von der Spurensicherung. Können Sie an Ort und Stelle bleiben und die Leute zum Chief führen, wenn sie kommen?«
Clare drückte erneut die Sprechtaste. »Ja, ich warte.«
»Mit Ihnen so weit alles okay, Reverend?«
»Ja, Harlene. Danke der Nachfrage. Es geht schon.«
»Tapferes Mädchen. Ende der Durchsage.«
Clare zog ihre Handschuhe aus und hauchte sich auf die Finger. Sie erinnerte sich an Zeiten, da hätte sie jeden in Stücke gerissen, der sie »Mädchen« nannte. Aber nun, mit fünfunddreißig, wurde sie nachsichtiger. War das, was Russ dort unten in Eis und Schnee gesehen hatte, wirklich ein Mädchen? Oder eine Frau? Sie raffte ihren Parka zusammen, als die Hitze, die durch die körperliche Anstrengung entstanden war, allmählich verflog. In dem Wagen war es kalt und still wie in einem Grab.
Clare lehnte ihren Kopf an das starre Vinyl des Sitzes. Sie schloss die Augen, um den Anblick der weißen Hand und des schwarzen Haares zu verdrängen. Hatte irgendetwas diese Frau zum Selbstmord hier herausgetrieben? Etwas in ihrem Innern, so dunkel und kalt, dass sogar die mondlose Nacht und das eiskalte Wasser erträglicher schienen? Gütiger Gott. Das war der Anfang des Gebetes, das Clare morgen sprechen würde, wenn sie in die behaglichen, zufriedenen Gesichter ihrer Gemeinde schaute. Gütiger Gott, der du Deine Propheten entsandt hast, um Reue zu predigen
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