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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Spuren fotografiert und der Chief zusammen mit Officer Flynn jeden Baum und jeden Zweig nach Haaren und Fasern abgesucht hatte, da hatte Clare bereits einen kreisförmigen vereisten Flecken in den Schnee gestampft. Kein Wunder, dass Krimis diesen Teil der Polizeiarbeit meist übersprangen. Er war so öde, so langweilig, dass man das Ganze mit anderen Augen sah. Hätte Clare sich nicht durch Bewegung warm gehalten, dann wäre sie womöglich eingeschlafen. Nicht leicht, das Entsetzen über den Tod eines Mitmenschen zu bewahren, wenn man so viel zähe Kleinarbeit zu erledigen hatte.
    Die Sanitäter, die es dank ihrer dicken, schweren Schneeanzüge beim Warten viel bequemer hatten, schlitterten hangabwärts, während sie die Bahre hinter sich herzogen. Clare beobachtete, wie sie sich mit den Polizeibeamten am Flussufer berieten.
    »Okay«, sagte einer der Männer, »also packen wir’s.«
    »Eins … zwei … drei …«, sagte eine andere Stimme, und es gab ein lautes knackendes Geräusch. Jemand stöhnte.
    »Vorsicht, das Wasser! Vorsicht!«
    »Hab sie schon. Okay, okay, jetzt loslassen.«
    Russ löste sich von der Gruppe und kletterte zu Clare herauf, hinter ihm die Sanitäter, gefolgt von Hayes und Flynn, um sie abzufangen, falls sie rutschen würden. Die Gestalt, die auf der Bahre festgeschnallt war, sah aus wie eine Märchenfigur: weiße Haut, dunkles Haar, und der Schein der Leuchtkerzen verlieh der Szene etwas Unwirkliches.
    Auf dem Weg angekommen, legten sich die Sanitäter Gurte über die Schulter. Dabei kippte die Bahre fast zur Seite.
    »Vorsichtig«, sagte Russ scharf. Clare hatte sich auf einen entstellten Leichnam gefasst gemacht, aber die Gestalt glich eher einer hübschen Statue mit rundem Gesicht – wie ein Mädchen, das eingeschlafen und dessen Kopf zur Seite gesunken war. Gefrorene Blätter hingen in ihrem langen Haar. Clare sah zu Russ. »Darf ich sie anfassen?«, fragte sie.
    Er nickte. »Aber Vorsicht. Nicht bewegen.« Clare machte über der Alabasterstirn des Mädchens das Kreuzzeichen.
    Hayes beugte sich zu Russ hinüber. »Sagten Sie nicht, sie wäre keine Verwandte der Verstorbenen?«, flüsterte er überlaut. »Sie ist Pastorin«, flüsterte Russ zurück.
    Der State Trooper sah Clare überrascht an. »Ma’am?«, sagte er. »Ich meine ›Reverend‹.« Clare schloss sekundenlang die Augen. Sie hatte in diesem Moment wirklich keine Lust auf die alte Leier über Frauen im Priesteramt. »Ich bin praktizierender Christ, Ma’am«, fuhr er fort, »und würde gerne mit Ihnen beten.«
    Clare blickte auf, um Russ direkt in die Augen zu sehen. Sie würde nicht um Erlaubnis fragen. Einen Moment fixierten sie einander, dann nickte er kaum wahrnehmbar. »Danke, Sergeant Hayes«, sagte sie und breitete über dem toten Mädchen ihre Arme aus. »Lasset uns beten.« Die Männer senkten die Köpfe. »So scheide, o Seele, aus dieser Welt, im Namen des Herrn, der dich erschaffen hat, im Namen des Erlösers, der für dich gestorben ist.« Sie legte ihre Hand auf die eisige Brust. »Mögest du ruhen in Frieden und wohnen im Paradiese Gottes.«
    Leise erwiderten die anderen: »Amen.« Russ griff an den Sanitätern vorbei und zog vom Fuß der Bahre eine Wolldecke hoch.
    »Chief?«, fragte Flynn verwundert.
    Russ schüttelte die Decke aus und legte sie über das Mädchen. »Okay«, sagte er. Clare überließ Hayes und Flynn die Führung, während sie selbst sich den Sanitätern und deren Last anschloss. Russ folgte ihr. »Ich glaube nicht an Gott, wissen Sie«, sagte er.
    »Hm, hm«, erwiderte sie.
    »Hab auch nie einen Sinn in organisierter Religion gesehen«, fuhr er fort.
    »So«, antwortete sie.
    »Aber dass jeder einen grundsätzlichen Respekt als Mensch verdient, daran glaube ich.«
    »Selbst die Toten.«
    Stumm stapften sie weiter. Schließlich sagte Russ: »Die Toten vielleicht erst recht.«
    Clare nickte. »Mir gefällt die Art, wie Sie beten«, bemerkte sie. Mit einem matten Lächeln schüttelte Russ den Kopf. »Den Toten die letzte Ehre erweisen, so viel Respekt kann jeder von uns aufbringen.«
    »Nein. Die letzte Gerechtigkeit, die kann jeder von uns ihnen erweisen.«
    Sie atmete scharf ein und rieb sich mit dem Rücken ihres Handschuhs die Augen, in denen Tränen brannten. »Ja«, sagte sie, als ihre Stimme wieder fest klang. »Sie haben Recht. Wir schulden den Toten Gerechtigkeit.«

5
    D er Range Rover der Burns stand schon auf der anderen Straßenseite, als Clare das Pfarrzentrum aufschloss. Sie waren

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