Das Weisse Kleid Des Todes
um neun Uhr verabredet. Während sie mit der schweren Schlüsselkette hantierte, sah sie kurz auf ihre Armbanduhr. Sie wusste, dass sie knapp dran war, aber trotzdem hielt sie sich etwas darauf zugute, immer pünktlich zu sein. Ihre alte stählerne Seiko, die an einem olivgrünen Band befestigt war, zeigte 8:55. Offenbar hatten die Burns heute früh keine Lust gehabt, daheim herumzuhängen. Na, Clare genauso wenig.
Sie hatte letzte Nacht schlecht geschlafen und zum ersten Mal seit sieben oder acht Monaten wieder von Grace geträumt. Gleich nachdem sie wie gerädert aus den Federn gekrochen war, hatte sie ein langes Stück an der Route 51 gejoggt, dort, wo zu ihrer Linken der Fluss breit und gemächlich in Richtung der alten Mühlen und Fabrikanlagen strömte und vor ihr die Berge im ersten Tageslicht aufragten: korallenrosa und taubenblau. Sie nahm sich selbst hart ran, um den Bildern von wütenden Teenagern, mürrischen Betrunkenen und vor allem dem schneeweißen Gesicht des toten Mädchens zu entkommen. Später unter der Dusche ließ sie sich von dem heißen Wasser durchweichen bis auf die Knochen. Sie hoffte, sich so weit zu beruhigen, dass sie die kleine innere Stimme hören könnte – jene, die ihr sagen würde, in welcher Richtung sie weitermachen, was sie tun solle. Nach Clares Erfahrung war schmerzliche Erkenntnis ein Gottesgeschenk – Gottes Art, die Ablenkungen und den Egoismus beiseite zu schieben und die Sicht auf den Weg freizugeben, der einem bestimmt war.
Das laute Türenschlagen des Range Rovers holte sie in die Gegenwart zurück. Die Burns kamen über den Parkplatz auf die Rückseite der Kirche zugelaufen. Mit ihren Freizeitjacken, Jeans und Pullovern wirkten sie für einen Samstagmorgen perfekt gekleidet, wie Models auf der Titelseite eines J.-Crew-Katalogs. Jünger und verwundbarer als in ihrer Geschäftskleidung oder ihrem Sonntagsanzug. Clare schaffte es, die pseudo-mittelalterliche Pforte zu öffnen, und stieß sie mit ihrer Hüfte auf.
»Guten Morgen«, sagte sie, ihre Thermoskanne jonglierend, um Hände schütteln zu können.
Während sie einander begrüßten, betrachteten die Burns verwundert Clares Aufmachung. »Reverend Clare«, sagte Karen, »machen Sie nachts heimlich Ausflüge mit der Polizei?«
Clare zupfte an dem weiten, braunen Parka, den sie trug. »Oh, der hier. Den hat mir Chief Van Alstyne ausgeborgt. Habe vergessen, ihn zurückzugeben. Ich muss gestehen, er ist viel wärmer als alle Jacken und Mäntel, die ich mitgebracht habe. Ich bin versucht, das Zurückgeben einfach zu vergessen.«
Karen nickte. »Früher musste man ja immer nach Saratoga, um irgendwas zum Anziehen zu kaufen«, sagte sie, »aber in den letzten Jahren haben auch in Millers Kill ein paar wundervolle Läden aufgemacht. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie gern mal dorthin.«
Clare betrachtete den edlen Filzmantel der Anwältin, mit Applikationen, die aussahen wie Klosterstickereien. Genau wie die Feinstickereien auf Karens Designerpullover. Clare hatte das Gefühl, sie könnte sich Kleider aus diesen wunderschönen kleinen Boutiquen nicht leisten.
»Wollen wir nicht reingehen?«, fragte Geoff und fügte einen Moment später hinzu: »Meine Damen?« Sie traten ihre Stiefel an den Fußmatten ab, die mehr als einen Meter in das Pfarrbüro hineinreichten.
»Ich hab Frühstücksgebäck mitgebracht«, verkündete Karen und hielt eine säuberlich gefaltete, weiße Tüte hoch. »In der Main Street gibt es eine Bäckerei – In the Dough – , die machen märchenhafte Croissants. Von den Bagels, ich meine, den echten Bagels, ganz zu schweigen.«
Clare dachte an den Donut-Shop, in den Russ sie gestern Abend unbedingt hatte einladen müssen. »Ein Polizist, der keine Donuts isst, so was gibt’s gar nicht«, hatte er gesagt, während er sie in die Kuchen-und-Tee-Stube hineinschob. Er vertrat eine ausgeklügelte Theorie, wonach sich die Persönlichkeit an der Wahl der Donuts ablesen ließ und Gelee-Donuts an Stelle von Honigkrapfen die Geheimnisse der Seele offenbaren könnten. Heute Nacht hatte Clare ihn noch ausgelacht, als sie nun jedoch sah, wie Karen ein dickes Mini-Muffin von erlesener Qualität aus der Tüte zog, fragte sie sich, ob an Russ’ Theorie nicht doch etwas dran wäre. Sie öffnete die Tür ihres Büros und ließ den Burns den Vortritt.
»Oh«, meinte Karen, und die beiden Eheleute verharrten auf der Schwelle, um bedächtig ringsum zu sehen. »Das ist aber ganz anders als bei Pfarrer
Weitere Kostenlose Bücher