Das Weisse Kleid Des Todes
irgendetwas mit dem Tod ihres Vaters zu tun hat.« Clares Stimme fiel plötzlich einem Typen ins Wort, der sich beklagte, seine Frau habe ihre Einkünfte durch Offshore-banking geschützt.
»Und ich glaube, Sie können sich nicht vorstellen, dass Menschen, die Ihnen sympathisch sind, etwas Schlechtes tun«, entgegnete Russ. »Das Gleiche haben Sie doch schon bei Karen, Geoff und Ethan gesagt.«
»Ich habe nie behauptet, Geoff Burns wäre mir sympathisch«, wehrte sie sich grinsend.
»Zu dumm, dass es nicht McWhorter war«, fuhr er fort. »Der hätte so ’nen schönen Bösewicht abgegeben.« Sie nickte. »Zu dumm, dass es nicht so ist wie in neunzig Prozent aller Mordfälle, wo der Ehemann, die Frau, der Freund oder die Freundin mit gezückter Waffe dastehen, wenn die Bullen kommen, und sagen: ›Aber es war nicht Absicht!‹.«
In der Einfahrt zum Parkplatz leuchteten Scheinwerfer auf. Ein Kleinwagen kam im Schritttempo, mit durchdrehenden Reifen, hereingefahren. Ein Honda Civic. Schwarz. Er parkte ein paar Lücken weiter. Die schwache Innenbeleuchtung ging kurz an, als jemand die Tür auf-und wieder zumachte. Russ konnte die Gestalt kaum erkennen, die sich durch das dichte Schneetreiben den Gehsteig entlangkämpfte. Sie hatte etwas relativ Großes unter die Arme geklemmt. Als Russ und Clare gleichzeitig ihre Tür öffneten, verschlug ihm der eisig kalte Wind einen Moment den Atem. Russ konnte das Geräusch hören, mit dem Clares blöde Stiefeletten in über dreizehn Zentimetern Neuschnee versanken.
»Kristen?«, rief er.
Das Mädchen wirbelte herum und riss eine Faust hoch. Die Schlüssel steckten zwischen ihren Fingern wie abgebrochene spitze Krallen. Sie drückte einen Rucksack an ihre Brust.
Russ hob die Hände. »Ich bin’s, Chief Van Alstyne. Reverend Fergusson ist auch da.«
»Was? Was ist los? Geht es um Katies Baby?«
»Wir müssen mit Ihnen reden. Dürfen wir reinkommen?«
Kristen sah sie unter ihrer schwarzen Strickmütze hervor misstrauisch an. »Von mir aus.« Sie watete durch den Schnee, der über den Gehsteig wehte, schloss die Tür zu ihrem Häuschen auf und klopfte die Stiefel an der Türkante ab. Russ und Clare folgten ihrem Beispiel. Drinnen drängten sie sich alle in einer winzigen gefliesten Diele und zogen ihre Jacken und Stiefel aus.
Kristens Wohnung war nicht das, was Russ nach ihrem schwarzen Outfit und ihrer »gotischen« Frisur erwartet hatte. Statt Vinylpolster und Postern von Trash-Gruppen hatte sie weiße Rattanmöbel aus dem Import-Shop mit pastellfarbenen, geblümten Bezügen. Reproduktionen hauchzarter Gemälde von Ballerinen hingen über Regalen voller Taschenbücher und Kuscheltiere. Das Zimmer eines Teenie-Mädchens. Noch etwas, das sie durch Darrell McWhorters Schuld hatte entbehren müssen.
»Was wollen Sie hier so spät?«, fragte Kristen, während sie den Rucksack auf einen gläsernen Kaffeetisch fallen ließ. »Gibt es etwas Neues wegen Katie?«
Clare sah zu Russ, als wolle sie sagen: Na, jetzt bin ich aber gespannt. Verdammt, dabei wusste er selbst nicht weiter. Jemand hat Ihrem Vater heute Abend das Gehirn weggeballert. Ach, und übrigens: Waren Sie das? Wenn Kristen nichts mit McWhorters Ermordung zu tun hatte, dann würde Russ langsam, aber sicher wie ihr persönlicher Todesengel wirken. Erst ihre Schwester, jetzt ihr Dad. »Wo waren Sie während der letzten paar Stunden, Kristen?«, fragte er.
Sie fuhr sich mit einer Hand durch das pechschwarze Haar, sodass es wirr nach oben stand. »Ich war heute Abend nach dem Unterricht mit ’n paar Freunden Pizza essen. Ich mache an der WCCC gerade ’nen Wirtschaftsprüferlehrgang.« Als sie Clares hochgezogene Brauen sah, erklärte sie: »An der Volkshochschule.« Russ vermutete eher, Clare hatte auf die Vorstellung von Kristen als Buchhalterin reagiert, nicht auf das Buchstabenkürzel. »Also«, sagte Kristen, »würden Sie mir bitte verraten, was das Ganze soll?«
Volkshochschule und Pizzabude, das musste eigentlich leicht zu überprüfen sein. »Wie lange brauchten Sie vom Verlassen der Pizzeria bis zu Ihrer Ankunft hier?«, fragte Russ.
Kristens Gesichtsausdruck wechselte von wissbegierig-genervt zu erschrocken-wachsam. »Halbe Stunde vielleicht? Ist irgendwas passiert?«
Clare trat nah an die junge Frau heran und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Kristen, Ihr Vater ist heute Abend tot aufgefunden worden. Es war Mord. Wenn Sie etwas darüber wissen, dann, bitte, sagen Sie es uns.« Sie ging ran wie ein
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