Das Weisse Kleid Des Todes
kann gar nicht glauben, dass ich ihn erst vor zehn Tagen gesehen habe.«
Clare konnte dieses wohlgenährte Baby kaum mit dem Bündel in Zusammenhang bringen, das sie an jenem Abend in der Pfarrküche ausgewickelt hatte.
»Er wiegt beinahe zehn Pfund. Der Doktor ist sehr zufrieden.«
Zehn Pfund, das hieß wohl etwas Gutes. »Sollte er nicht auf dem Bauch schlafen?«
»O nein. Nur auf dem Rücken, wie man heute weiß. Vermindert das Risiko vom so genannten plötzlichen Kindstod.« Deborah betrachtete Cody mit einem verzückten Lächeln, das manche Menschen beim Anblick von Babys bekommen. »Wir wollen doch nicht, dass dem Kleinen irgendetwas zustößt.«
Clare streckte ihre Hand aus. »Darf ich?«
»Ihn anfassen? Nur zu. Bis er wieder Hunger hat, wird er nicht wachzukriegen sein.«
Clare legte ihre Hand auf das Köpfchen, segnete Cody mit einer ungeahnten Zärtlichkeit und staunte, wie doch die hilflosesten aller Geschöpfe von Gott selbst behütet wurden. Nachdem sie ihm das Kreuzzeichen auf die Stirn gemacht hatte, tippte sie Deborah auf den Arm und deutete auf eine Häkelarbeit vor dem Fenster. Sein Auge behütet den Spatzen, lautete die Inschrift. »Ja«, sagte Clare, »ja, so ist es.«
Im Wohnzimmer bewunderte sie noch mehr Bilder von Examensfeiern, Schulbällen und Hochzeiten, bevor sie auf den springenden Punkt zu sprechen kam. »Wie ich höre, waren die Burns hier zu Besuch. Hat Ms. Dunkling vom Jugendamt Ihnen von dem Brief erzählt, der bei Cody gefunden wurde?«
»Ja, hat sie. Sie hält mich über alles, was mit Cody zusammenhängt, auf dem Laufenden. In dieser Hinsicht ist sie wunderbar.«
»Stimmt es, dass Mr. Burns letzten Mittwoch hier war? Abends?«
»Ja, obwohl nicht zum ersten Mal. Seine Frau ist einmal beim Kinderarzt aufgetaucht, als ich mit Cody dorthin ging. Und ein, zwei Tage, nachdem ich ihn in Pflege bekommen hatte, sind sie beide vorbeigeschneit. Fairnesshalber muss ich aber sagen, dass nicht viel Zeit für einen richtigen Besuch war und dass sie vorher anriefen.«
»Hat Mr. Burns auch angerufen, als er am Mittwochabend vorbeikam?«
Deborah schlug die Beine übereinander. »Nein, hat er nicht, und ehrlich gesagt machte dieser Besuch mich nervös. Ich will nicht behaupten, dass Mr. Burns betrunken war; aber er hatte eindeutig eine Fahne, als hätte er sich nach Feierabend im Dew Drop Inn ein paar Drinks hinter die Binde gekippt.«
Clare schüttelte den Kopf. »Nach Feierabend?«
»Ich dachte mir, er ist nach dem Büro bestimmt auf ein, zwei Bier gegangen, und dann kam ihm die glorreiche Idee, bei Cody vorbeizuschauen. Er steckte immer noch in Schlips und Jackett. Wirklich, ich will mich nicht beklagen. Ich verstehe, wie schwer Adoptiveltern die Warterei fällt, und ich hab nichts gegen Besuch. Das ist auch für die Kinder gut. Aber, lieber Gott!« Sie hob die Hände in die Höhe. »Ich kann’s nicht leiden, wenn Leute abends um acht hier auftauchen, in meinem Wohnzimmer rumstänkern und den Tagesrhythmus eines Kindes stören.«
»Geoff Burns war aufgebracht?«
»›Wütend‹ wäre wohl das bessere Wort. Völlig ungebeten ist er hier aufgekreuzt, ohne die leiseste Entschuldigung, gerade als ich das Acht-Uhr-Fläschchen für Cody vorbereite, und schimpft über Gott und die Welt. Wollte unbedingt das Baby halten, aber er war so in Rage oder besoffen oder was, dass er das arme Würmchen ganz närrisch gemacht hat und es sich über eine halbe Stunde nicht mehr beruhigen wollte.« Sie beugte sich nach vorne. »Babys erkennen die Stimmung von Leuten nämlich sehr gut an der Körpersprache.«
Clare trank einen Schluck Kaffee. In ihrer Fantasie hatte sich zu der Schlagzeile – Pastorin unterstützt Adoption durch Mörder – eine Unterzeile gesellt: Jugendamt verklagt Diözese. »Deborah«, sagte sie, »wie lange fährt man von hier zur Old Schuylerville Road?«
»Hm? Ist das Ihre nächste Station? Mal überlegen. Wenn Sie bei Power’s Corners abbiegen und dann die alte Route Eleven nehmen, könnten Sie’s in etwa zehn Minuten schaffen.«
»Zehn Minuten.« Lange genug, um dorthin zu kommen, wo man Darrell McWhorters Leiche hatte liegen lassen, anschließend nach Albany zu fahren und immer noch rechtzeitig wieder daheim zu sein, um die Polizei von Millers Kill an der Haustür zu empfangen. Clare verspürte den plötzlichen Drang, auf der Stelle zur Kanzlei der Burns zu fahren. Sie wollte von ihnen die Wahrheit wissen, auch wenn sich ihre Instinkte als falsch erweisen
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