Das weiße Krokodil
er keine Schwierigkeiten.«
»Ach was. Er ist ein bißchen verrückt und hält sich für verpflichtet, mir Ratschläge zu erteilen. Dauernd schwebt er auf silbernen Wolken und hat keine Ahnung, was es heißt, sich auf der Erde behaupten zu müssen.«
Der Malaie grinste. »Hauptsache, bei uns hat alles geklappt.«
»Bist du zufrieden?«
»Sehr! Mir ist übrigens ein großartiger Gedanke gekommen. Sag deinen Männern, daß sie auf die Pagode klettern und zwanzig bis dreißig Ziegel herunterholen sollen. Aber vom hinteren Teil des Daches, damit der Alte es nicht merkt.«
Yen-sun sah ihn verblüfft an. »Was willst du mit den Dingern?«
»Das erzähle ich dir später. Ich muß jetzt meine Sachen packen. In fünf Minuten bin ich fertig. Dann kann es von mir aus losgehen. Je früher wir nach Hause kommen, um so besser.«
Yen-sun nahm seine Kameraden zur Seite und gab ihnen eine entsprechende Anweisung. Dann kehrte er zu Tie-tie zurück, der sich auf die Steintreppe gesetzt hatte und mit wunden Augen über den See blickte. »Worüber grübelst du nach?« fragte er ihn im Bestreben, die eingetretene Verstimmung zu verwischen.
Tie-tie schaute zu ihm hoch. »Über vieles. Unter anderem auch über dich.«
»Bist du böse?«
»Nein, ich bin traurig.«
»Weil ich nicht so bin, wie du mich haben möchtest?«
Tie-tie hob die Schultern.
Yen-sun setzte sich zu ihm. »Begreif doch endlich, daß junge Menschen nicht wie alte leben können. Zumal nicht in einer Zeit, in der alles drunter und drüber geht. Was einmal war, das ist zerstört. Wir müssen sehen, daß wir uns durchschlagen: so oder so! Es gibt keine eingefahrenen Gleise mehr, auf denen man sicher dahingleiten kann. Übriggeblieben sind nur Chancen und Möglichkeiten, die ergriffen und genützt werden müssen. Wer zögert und lange überlegt, bringt es zu nichts und bleibt in der Masse.«
»Das mag richtig sein«, entgegnete Tie-tie. »Du vergißt aber, daß derjenige, der einfach lebt, keine Unruhe kennt, wohingegen reiche und in hohe Stellungen gelangte Menschen niemals ohne Sorgen sind. Ist es da nicht besser, in der Masse zu bleiben und ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen?«
»Deine Worte widersprechen der Tatsache, daß der Mensch seiner Natur gemäß nach oben strebt«, antwortete Yen-sun verächtlich.
»Gewiß«, erwiderte Tie-tie. »Wer jedoch aufsteigen will, muß unten beginnen. Man muß ja auch in der Nähe anfangen, wenn man weit fahren will, und das ist es, was ich dir verständlich machen möchte. Du hast plötzlich viel Geld verdient und möchtest nun erzwingen, daß es weiterhin so bleibt. Das geht nicht. Wer es mit Gewalt versucht, wird zwangsläufig auf einen Weg geraten, dessen Ende ›Enttäuschung‹ heißt. Es ist nun einmal so, daß alles auf Erden wachsen und reifen will. Wer sich einbildet, diesen Prozeß überspringen zu können, verdirbt den großen Plan und gleicht einem Kinde, das am Abend einen Kirschkern in die Erde steckt und hofft, am nächsten Morgen einen blühenden Baum vorzufinden.«
Das unversehens doch noch zustande gekommene Gespräch erleichterte Tie-tie, wenngleich es ihm nicht die Möglichkeit gegeben hatte, über jene Dinge zu sprechen, die ihn schwer getroffen hatten. Sie waren aber wenigstens im Guten auseinandergegangen, und das ließ ihn neue Hoffnung schöpfen. Er wußte natürlich, daß Worte allein keinen Menschen ändern können, aber er war durchdrungen vom Glauben an die Stärke des Guten und deutete den versöhnlichen Abschied als ein Zeichen dafür, daß Yen-sun ihn verstanden habe.
Ein ungutes Gefühl beschlich ihn jedoch, wenn er an den rundlichen Malaien dachte. Mit ihm konnte er nicht fertig werden. Vielleicht lag es daran, daß er dessen Sprache nicht verstand; auf jeden Fall mißtraute er ihm, und je länger er über alles nachdachte, um so mehr gelangte er zu der Überzeugung, daß Yen-sun sich erst unter dem Einfluß des Malaien so grundlegend verändert habe.
Ich muß etwas unternehmen, sagte er sich immer wieder. Aber was?
Tie-tie wäre nicht er selbst gewesen, wenn er keinen Ausweg gefunden hätte. Er kniete nun täglich eine Stunde länger vor der aus Sandelholz geschnitzten Buddhastatue und flehte den Allmächtigen an, seine schützende Hand über Yen-sun zu halten und zu bedenken, daß dieser, wie jeder andere, weitgehend Nachsicht verdiene, da sich der Charakter des Menschen mit der Verschiedenheit seiner Umgebung in der gleichen Weise verändere wie das Bild eines
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