Das weiße Krokodil
Pagode niederließen, um die Ankunft des weißen Krokodils abzuwarten.
Tie-tie verschwieg, daß das mit Spannung erwartete Raubtier frühestens in einer Stunde kommen würde.
Warum sollte er die ihm viel zu laut und zu geschäftig erscheinenden Männer nicht ein wenig an der Nase herumführen? Sie erzählten ihm ja auch nicht alles, und die Wartezeit kam ihm wie gerufen, weil sie ihm die Möglichkeit bot, sich mit Yen-sun zu unterhalten.
Doch er täuschte sich. Bereits nach der ersten, seine Frau betreffenden Frage erklärte Yen-sun recht unwirsch: »Ich habe dir doch gerade vor zwei Wochen gesagt, welch komische Auffassungen sie in letzter Zeit hat. Wozu also über sie reden? Es hat keinen Sinn. Außerdem bin ich müde und möchte etwas schlafen.«
Tie-tie war es, als habe er einen Schlag vor den Kopf erhalten. In ihm wurde all das wieder wach, was er mühsam unterdrückt hatte. »Nun gut«, entgegnete er verwirrt. »Dann werde ich in den Tempel gehen und für Sim und die Kinder beten.«
»Das kann nicht schaden«, erwiderte Yen-sun gähnend. »Und es wäre nicht schlecht, wenn du mich in dein Gebet einschließen würdest. Ich habe nämlich große Pläne und dementsprechende Sorgen.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begab sich Tie-tie in den Tempel, in dem er lange vor der Buddhastatue kniete und inbrünstig betete. Dann begann er eine ruhelose Wanderung und fragte sich immer wieder: Was mag in Yen-sun gefahren sein? Geld allein kann ihn nicht so verändert haben. Sollte womöglich doch die Gehilfin…?
Er erinnerte sich des weisen Kung-tse, der gelehrt hatte: ›Wenn du das Wesen eines Mannes ergründen willst, dann betrachte seine Taten, erwäge seine Beweggründe und prüfe, woran er Befriedigung findet.‹
Ich muß mit Yen-sun sprechen, sagte er sich und ging nach draußen, wo er die Männer in geduckter Haltung zum Ufer hinunterstarren sah.
»Das Krokodil ist da!« zischte Yen-sun. »Bleib stehen! Wir machen gerade Aufnahmen!«
Der Anblick des wie suchend zur Pagode herauf schauenden Krokodils schmerzte Tie-tie. Wie ein Verräter kam er sich vor. Er bedauerte es zutiefst, dem rundlichen Malaien Ratschläge erteilt zu haben.
Eine schreckliche Ernüchterung erfaßte ihn und raubte ihm alle Illusionen. Er war sich plötzlich darüber klar, daß man Schindluder mit ihm trieb. Konnte es sich da noch lohnen, mit Yen-sun zu reden? Wie mußten er und sein Begleiter über ihn gelacht haben, als er sich, im Glauben, den Kindern eine Freude zu bereiten, willig zu Aufnahmen zur Verfügung gestellt hatte. Der Himmel mochte wissen, wofür die Fotos benötigt wurden. Tie-tie zweifelte nicht mehr daran, daß man ihn schändlich hintergangen hatte.
Diese Erkenntnis hielt ihn jedoch nicht davon ab, seinen einmal gefaßten Entschluß in die Tat umzusetzen. »Hast du einen Moment Zeit für mich?« wandte er sich an Yen-sun, als das weiße Krokodil infolge einer unvorsichtigen Bewegung des Malaien jäh geflüchtet war.
Yen-sun nickte, ohne den Blick vom See zu wenden, auf dem sich eine leichte Kiellinie abzeichnete.
»Dann komm!«
Der junge Chinese drehte sich um und sah ihn fragend an. »Wohin?«
»Wohin du willst. Ich möchte mich mit dir unterhalten.«
»Worüber?«
»Das sage ich dir, wenn wir allein sind.«
Yen-sun tippte sich an die Stirn. »Dann weiß ich, was du von mir willst, und verzichte auf die Unterredung. Ich bin groß genug, um zu wissen, was ich tue, und brauche weder ein Kindermädchen, das mich in den Schlaf wiegt, noch einen Geschichtenerzähler, der sich einbildet, die Welt mit moralisierenden Märchen verbessern zu können.«
Tie-tie sah ihn bittend an. »Ich wollte dir kein moralisierendes Märchen erzählen.«
»Sondern?«
»Mich in aller Offenheit mit dir unterhalten.«
»Über gewisse Dinge will ich aber nicht reden!« ereiferte sich Yen-sun.
Tie-tie seufzte. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu schweigen; denn wer mit Menschen spricht, die nicht mit sich reden lassen wollen, vergeudet Zeit und Worte.«
Yen-sun rümpfte die Nase. »Ist das der Weisheit letzter Schluß?«
»Nein«, antwortete Tie-tie mit sanfter Stimme. »Da würde ich eher sagen: Der Weise vergeudet keine Worte, läßt aber auch keinen Menschen verlorengehen. Du kannst mich also jederzeit aufsuchen, wenn du mich sprechen möchtest.«
»What’s the matter?« mischte sich der Malaie ein.
»Nothing!« erwiderte Yen-sun. »Unser Mönchlein scheint nur Lunte gerochen zu haben.«
»Hoffentlich macht
Weitere Kostenlose Bücher