Das weiße Krokodil
Flusses, dessen Lauf durch Täler und Ebenen führt. Und um den Himmel zu verpflichten, seiner Bitte zu entsprechen, schloß er seine zusätzliche Gebetsstunde stets mit den Worten: »Und nun danke ich dir dafür, daß du mich erhört hast! Om mani padme hum! O Kleinod in der Lotosblume, Amen!«
Wochen und Monate gingen so dahin. Die Zeit schien stillzustehen und beantwortete keine der Fragen, die sich dem greisen Tie-tie immer wieder aufdrängten. Wie mochte es Sim ergehen, wie ihren Kindern? War seine zuletzt an Yen-sun gerichtete Mahnung auf fruchtbaren Boden gefallen, oder hatte der Wind der Nachkriegszeit mit seinen Worten gespielt und sie an Yen-suns Ohr vorbeigeblasen?
Die Monate reihten sich wie die Steine eines Gebetskranzes aneinander, ohne daß sich jemals ein Boot zeigte. Nur das weiße Krokodil tauchte in gewohnter Regelmäßigkeit auf, und wenn Tie-tie ihm seine Geschichten erzählte, dann wünschte er sich oft, daß es reden und ihm sagen könnte, wie es Yen-sun und seiner Familie ergehe, die es wahrscheinlich täglich zu sehen bekam, wenn es von seinen nächtlichen Jagden zur Sandelholz-Pagode zurückkehrte.
Fast sieben Monate wartete Tie-tie vergeblich auf ein Lebenszeichen, dann aber erschien Yen-sun, begleitet von seinen Kindern, die schon von weitem seinen Namen riefen und ihn nach der Landung so stürmisch umarmten, daß er gerührt in Tränen ausbrach.
»Bist du krank?« fragte ihn das Mädchen.
Er schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
»Weil du weinst.«
»Ach, das ist nur Freude! Freude darüber, daß ihr zu mir gekommen seid.«
Yen-sun reichte ihm die Hand. »Mein schlechtes Gewissen trieb mich, die Kinder mitzunehmen. Ohne sie hätte ich mich nicht hierhergewagt.«
»Das nehme ich als ein gutes Omen«, entgegnete Tie-tie erfreut und wandte sich an Yen-suns Kameraden, die er herzlich begrüßte und scherzhaft fragte, ob sie ebenfalls ein schlechtes Gewissen hätten.
Einer von ihnen grinste und wies auf Yen-sun. »Der Chef ist unser Gewissen.«
Tie-tie hob die Augenbrauen, aber noch bevor er etwas erwidern konnte, zeigte ihm Yen-suns Sohn eine Fotografie, die ihn, den greisen Tie-tie, mit einigen Affen zeigte. »Kennst du dieses Bild?«
»Nein«, antwortete er und betrachtete die Aufnahme. »Euer Vater ist ja seit damals… Aber die Aufnahme ist sehr schön«, unterbrach er sich. »Wirklich, ich hätte nicht gedacht…«
»Wir haben das Bild schon lange«, fiel der Junge hastig ein. »Papa hat es uns geschenkt und gesagt, daß du uns zu den Affen führen würdest. Tust du das?«
»Natürlich!«
»Und zeigst du uns auch das weiße Krokodil?«
»Selbstverständlich«, antwortete Tie-tie. »In etwa einer Stunde wird es kommen. Wenn wir zur Pagode hinaufgehen und ihr euch schön ruhig verhaltet, wird es gewiß nicht flüchten.«
»Hier, ich habe auch vom weißen Krokodil ein Foto.«
Tie-tie war von der Schärfe und Größe der Aufnahme verblüfft. »Das sieht ja aus, als habe der Fotograf direkt vor der Schnauze gestanden«, rief er begeistert.
Yen-sun spreizte sich wie ein Pfau. »Das ist die Wirkung des Teleobjektivs! Unabhängig davon ist mein Freund bekannt dafür, daß er hervorragende Bilder macht.«
»Lebt er in eurer Nähe?« erkundigte Tie-tie sich wie nebenbei.
»Nein, er hat ein Haus in Penang, wo ich mich in letzter Zeit ebenfalls vielfach aufhalte. Wir haben eine Gesellschaft gegründet.«
»Eine Gesellschaft?« fragte Tie-tie erstaunt.
»Ja. Das ist auch der Grund, warum ich nicht kommen konnte. Die Aufbauarbeit gestattete es einfach nicht.«
»Und was ist das für eine Gesellschaft?«
»Das erzähle ich dir später«, erwiderte Yen-sun. »Wir haben allerhand auszuladen, und ich schlage vor, daß du mit den Kindern inzwischen nach oben gehst und ihnen die Affen zeigst.«
Diesen Vorschlag akzeptierte Tie-tie gerne, und sein Glück war grenzenlos, als der Junge und das Mädchen seine Hände ergriffen und mit ihm die Steintreppe emporstiegen. Ihm war zumute, als führten die Stufen an diesem Tage in den Himmel hinein. Das muntere Geplauder der beiden Kleinen tönte in seinen Ohren wie der helle Klang der an den Traufen der Pagodendächer hängenden Windglöckchen.
Ihre Fragen rissen nicht ab und verlangten immer neue Antworten. »Hat dich noch nie ein Tiger überfallen? Glaubst du, daß die Hühner uns wiedererkennen? Wohnt der Allmächtige bei dir in der Pagode? Was machst du, wenn du nichts zu essen hast? Können die Affen auch beten? Wer beerdigt
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