Das weiße Mädchen
Betrachtung einer knorrigen Eiche oder eines mächtigen bemoosten Findlings. Gelegentlich sah sie in einiger Entfernung eine Katze durch das Gras schleichen oder im Schatten eines Baums auf Beute lauern. In der nachmittäglichen Stille schien es ihr fast, als gäbe es in Verchow mehr Katzen als menschliche Bewohner.
Ob das die verwilderten Nachkommen der Herforthschen Zucht sind?,
fragte sie sich. Jedenfalls wirkten die Tiere wild und ungepflegt. Mit ihrem struppigen Fell und den auffällig spitzen Ohren sahen sie aus wie kleine Luchse.
Mehrere Stunden wanderte Lea umher, und erst als die Sonne sich rötete, wurde ihr bewusst, wie viel Zeit verstrichen war.
Vergiss einstweilen die Geister
, sagte sie sich.
Du hast Urlaub, und du verbringst ihn mitten in einem Paradies. Versuch, es zu genießen.
Ihr Körper verstand die Botschaft, antwortete mit Entspannung, leichter Müdigkeit – und, als sie wieder auf dem Dorfplatz ankam, mit zunehmendem Hunger. Jäh wurde ihr bewusst, dass sie eine Ferienwohnung und keine Pension gemietet hatte, dass es Sonntagnachmittag war und dass der einzige Lebensmittelladen zweifellos geschlossen hatte. Sie hatte ihre Reise ohne jeglichen Proviant angetreten, und in ihrem Wagen befand sich lediglich eine Flasche Mineralwasser. Am Dorfplatz gab es ein kleines Gasthaus, doch Lea hatte sich kaum auf zwanzig Schritte genähert, als sie ein handgeschriebenes Schild an der Tür bemerkte: So + Mo RUHETAG.
Mein Gott, ich bin wirklich in der tiefsten Provinz
, dachte sie betroffen. Offenbar blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ins Auto zu setzen und in einem der Nachbarorte nach einem Restaurant zu suchen.
Zunächst aber kehrte sie in ihre Wohnung zurück, um sich frisch zu machen und ihre vom Wandern staubigen Schuhe gegen ein sauberes Paar zu tauschen. Als sie schließlich in den Hausflur trat, begegnete sie Kai Zirner, der eben die Treppe herabkam.
»Hallo!«, grüßte er salopp. »Ich hoffe, Sie hatten einen schönen ersten Tag. Haben Sie alles, was Sie brauchen?«
»Ähm, nicht ganz«, gab Lea zu. »Aber das ist meine eigene Schuld. Ich habe gar nicht ans Essen gedacht.«
Kai Zirner schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ach, natürlich, es ist ja Sonntag! Verzeihen Sie, ich hätte Sie vorwarnen sollen, dass der Gasthof nicht jeden Taggeöffnet hat. Sie können gern mit nach oben kommen und sich aus unserem Kühlschrank bedienen.«
»Danke, das ist nicht nötig. Ich gehe irgendwo in einem der Nachbarorte etwas essen.«
»In Groß Heide gibt es ein ganz hervorragendes Restaurant«, bemerkte Kai Zirner. Er zögerte einen Moment. »Ich will mich ja nicht aufdrängen, aber … es ist recht langweilig hier. Mein Onkel hat nicht einmal einen Fernseher. Er behauptet, Fernsehen macht dumm. Meistens geht er früh schlafen, und dann sind die Abende lang. Also, kurz gesagt – darf ich Sie zum Essen einladen?«
Lea spürte einen wohligen kleinen Schauder. Jörg Hausmann hatte sie nach drei Monaten noch nicht gefragt, ob sie mit ihm essen gehen wolle – sein Pech.
»Gern«, erwiderte sie. »Für ein wenig Gesellschaft wäre ich dankbar.«
»Wunderbar!« Kai strahlte. »Können Sie fünf Minuten warten? Ich will nur meinem Onkel Bescheid sagen und mir etwas anderes anziehen.«
Lea nickte und sah zu, wie er sich umwandte und leichtfüßig die Treppe hinaufhuschte – immer zwei Stufen auf einmal, wie ein übermütiger Schuljunge, der sich auf einen Ausflug freut.
Er ist wirklich süß,
dachte sie.
Pass bloß auf, Lea, du willst dich doch nicht schon am Tag deiner Ankunft auf einen Urlaubsflirt einlassen, oder? Du gehst nur mit ihm essen, also halte Distanz.
Der gute Vorsatz währte nicht lange. Es war schwierig, zu jemandem Distanz zu halten, der so umgänglich und zugleich so charmant war wie Kai Zirner. Schon auf der Fahrt – sie fuhren mit seinem Wagen, da er den Weg kannte – fanden sie zu der gemeinsamen Ansicht, dass »Herr Zirner« und »Frau Petersen« sehr steif klang, wennman miteinander essen gehen wollte. Noch bevor sie den Nachbarort erreichten, nannten sie sich beim Vornamen.
»Und Sie sind also Journalistin, Lea?«, sagte Kai. »Was für ein interessanter Beruf! Da kann ich leider nicht mithalten.«
Lea musterte die gediegene Innenausstattung des BMWs. Sie ließ darauf schließen, dass Kais Beruf immerhin mehr Geld einbrachte als die Tätigkeit einer Redakteurin.
»Und was machen Sie?« Lea stellte die unvermeidliche Gegenfrage.
»Ach, Sie werden
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