Das weiße Mädchen
enttäuscht sein.« Seine Stimme klang fast entschuldigend. »Stellen Sie sich den langweiligsten Beruf vor, der Ihnen einfällt.«
»Buchhalter«, riet Lea.
»Nicht ganz.« Kai lächelte. »Steuerberater.«
»Oh! Wer betreut denn Ihre Klienten, während Sie hier bei Ihrem Onkel sind?«
»Ich habe in Uelzen ein paar Angestellte, die sich darum kümmern. Wenn etwas Wichtiges anliegt, muss ich natürlich erreichbar sein.« Er klopfte auf die Brusttasche seines Sakkos, in der ein Handy steckte.
»Und Ihre Familie kommt ohne Sie klar?«
»Ich habe keine – abgesehen von meinem Onkel.«
»Nanu? Keine Frau, keine Kinder?«
»Nichts von alldem«, sagte Kai leichthin.
Lea wartete darauf, dass er die Frage zurückgab. Es dauerte einen Moment, doch er enttäuschte sie nicht.
»Und Sie? Auch keinen Anhang?«
»Doch, einen sechzehnjährigen Sohn.«
»Keinen Vater dazu?«
Lea winkte ab. »Nur ein biologischer, wie man so schön sagt.«
Sie hatte wenig Lust, über Ralf zu sprechen, der sie vor langer Zeit auf der Universität umworben und dann sitzen gelassen hatte, als sie ungewollt schwanger geworden war. Tatsächlich hatte sie kaum um ihn getrauert, denn sie wusste, dass er kein guter Vater gewesen wäre. Selbst David hatte kein Interesse mehr an einem näheren Kontakt bekundet, nachdem er sich vor drei Jahren ein einziges Mal mit Ralf getroffen hatte.
»Er ist ganz nett«
, erinnerte sich Lea an Davids lakonischen Bericht.
»Aber eigentlich ist er nur irgendein fremder Mann.«
»Und was macht Ihr Sohn, während Sie hier sind?«, fragte Kai nun und riss Lea aus ihren Gedanken.
»Er ist auf einer Klassenfahrt.«
Kai erkundigte sich ausführlich nach David – es mochte reine Höflichkeit sein, doch Lea war es gleichgültig. Das Thema trug sie bis zur nächsten Ortschaft, auf einen kleinen Parkplatz und schließlich in ein gut besuchtes und geschmackvoll eingerichtetes Restaurant, wo sie sich an einen Tisch am Fenster setzten. Kai hatte nicht zu viel versprochen: Bedienung und Küche waren exzellent. Lea, die inzwischen großen Hunger hatte, orderte ein rustikales Menü aus Lammfilet, Folienkartoffeln und Gemüse, das sie bis zum letzten Happen verzehrte.
»Erstaunlich«, bemerkte Kai, der sich seinerseits mit einem Salat beschied. »Sie gehören wohl nicht zu den Frauen, die sich vor der Bestellung nach den Kalorienwerten erkundigen.«
Lea lachte und nahm einen Schluck von ihrem Rotwein. »Auf keinen Fall. Schlankheitswahn ist etwas für Zwanzigjährige – das habe ich längst hinter mir.«
»Aber noch nicht lange, oder? Sie sind doch gerade mal dreißig, nehme ich an.«
Lea lächelte pflichtschuldig über das Kompliment. Ermusste wissen, dass es nicht stimmen konnte, schließlich hatte sie ihren sechzehnjährigen Sohn erwähnt.
»Sechsunddreißig«, sagte sie geradeheraus. Mit ihrem Alter war sie ebenso wenig zurückhaltend wie mit ihrem Appetit.
»Dann gehören Sie wohl zu den Leuten, die essen können wie die Weltmeister und trotzdem schlank bleiben«, bemerkte Kai. »Beneidenswert.«
Standardkompliment Nummer zwei
, dachte Lea.
Er legt sich wirklich ins Zeug.
In Wahrheit war sie keineswegs makellos schlank, wusste jedoch aus Erfahrung, dass ihre knapp siebzig Kilo sich in einer Art und Weise verteilten, die bei Männern gut ankam.
»Ich selbst muss mich immer zurückhalten«, erklärte Kai, der in mäßigem Tempo seine Salatschüssel leerte. »Hoher Blutdruck, wissen Sie? Da darf man nicht auch noch dick werden.«
»Ach …« Lea winkte ab. »Man kann es auch übertreiben. Essen gehört zu den Freuden des Lebens, die man genießen sollte.«
Kai seufzte. »Leicht gesagt. Es gibt so viele schöne Dinge, die man gern genießen würde, wenn die Vernunft nicht dagegenspräche.«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu – kurz genug, um nicht aufdringlich zu wirken, lange genug, um der harmlosen Bemerkung Nachdruck zu verleihen.
Ohoh
, dachte Lea.
Darauf gibt es wohl kaum eine unverfängliche Erwiderung. Am besten wechsle ich das Thema.
Sie sprachen über das eine und andere unverfängliche Thema, von der Qualität des Hausweins bis zu den Vorzügen und Nachteilen ihres Landurlaubs. Lea schwärmte von der wunderschönen Landschaft in der Umgebung desDorfes. Kai dagegen zuckte die Achseln und meinte, es sei auf Dauer recht langweilig im Wendland. Er sehnte sich nach der Betriebsamkeit der Stadt und konnte es kaum erwarten, Verchow wieder den Rücken zu kehren.
»Immerhin stehen die Aussichten
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