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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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sie. Von hier aus waren nicht einmal mehr die fernen Lichter ihres Wagens zu erkennen. Stattdessen schloss der Wald die Lichtung wie ein schwarzer Ringwall ein. Instinktivging Lea auf die Ruine zu, deren Mauern im Mondschein eine helle Fläche bildeten – eine Insel aus Licht inmitten der umgebenden Finsternis.
    Das Haus musste bereits seit Jahrzehnten verlassen sein. Die vielfach geborstenen Mauern waren kaum noch hüfthoch, vom Dach war keine Spur mehr zu erkennen. Hier und dort ließ ein rechteckiger Absatz in den Wänden eine ehemalige Fensteröffnung erahnen. An der Rückwand des Hauses ragte ein Kamin aus Bruchsteinen in die Höhe. Auch eine Tür gab es – zumindest einen Durchgang, beidseitig begrenzt von abgetragenem Mauerwerk mit rissigem Putz.
    Lea betrat den nackten Betonboden, durchzogen von Sprüngen, aus denen wucherndes Unkraut hervortrat.
    »Hallo?«, wiederholte sie.
    Eigentlich war mit einem Blick zu erkennen, dass sich niemand in der Ruine aufhielt, denn die niedrigen Mauerreste boten kein Versteck. Dennoch rief Lea ein zweites und auch ein drittes Mal. Wo war die Unbekannte? Warum hatte sie sie hierhergelockt?
    »Also gut«, sagte Lea mit gedämpfter Stimme, nun zu sich selbst. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin – und bei dieser Dunkelheit hat es auch keinen Zweck, es herausfinden zu wollen. Ich gehe jetzt zurück und komme bei Tag wieder.« Sie hob die Stimme. »Haben Sie gehört? Ich gehe!«
    Keine Antwort – kein Geräusch, weder nah noch fern, kein Aufblitzen irgendeines bleichen Schemens zwischen den Bäumen.
    Lea verließ das Haus, betrat das Gras der Lichtung und versuchte, sich zu orientieren, woher sie gekommen war. Wo lag der Waldweg, der sie hierhergeführt hatte? Selbst im Mondschein konnte sie die Schneise nicht mit Bestimmtheit ausmachen.
    Den Blick zum Wald gewandt, versäumte Lea, auf den Boden vor ihren Füßen zu achten – und schrie erschrocken auf, als sie ins Leere trat. Eine Sekunde lang versuchte sie mit rudernden Armen das Gleichgewicht zu halten, dann stolperte sie und fiel vornüber. Reflexhaft riss sie die Unterarme vor die Brust und milderte ihren Sturz ein wenig. Dennoch kam der Aufprall jäh und heftig. Ein Stoß fuhr durch ihren Körper, ein Bein verdrehte sich und die Brille flog ihr von der Nase.
    Oh Gott   …
    Hastig rollte sie sich zur Seite, spürte feuchte Erde unter den Fingern und rappelte sich auf.
    Eine Falle   …
    Panisch tastete sie nach ihrer Brille, bekam sie endlich zu fassen und blickte sich um. Sie war über den Rand einer Grube gestürzt, stellte jedoch fest, dass sie deren Tiefe im ersten Schreck überschätzt hatte. Der Boden lag nur knapp einen Meter tiefer als das umgebende Gelände, und die Wände waren leicht schräg. Leas Furcht, sich ernsthaft verletzt zu haben, erwies sich als unbegründet:Als sie mit zittrigen Fingern ihre Glieder betastete, spürte sie keinen Schmerz – lediglich ein leichtes Ziehen im linken Bein, wo sie sich vermutlich einen Muskel gezerrt hatte.
    Ganz ruhig! Es ist nichts passiert.
    Im ersten Moment hatte sie sich ein furchtbares Bild ausgemalt: Dass irgendein perverser Mensch sie belauert hatte und auf sie zusprang, während sie benommen von ihrem Sturz in der Grube lag. Die Lichtung jedoch war still und verlassen wie zuvor. Zudem war die Erdverwerfung, wie Lea bei genauerer Betrachtung feststellte, kaum als Fallgrube geeignet. Nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte, kletterte sie ohne Mühe heraus und klopfte sich die Erde von den Kleidern. Dabei fiel ihr Blick auf die Schneise, die sich kaum zehn Meter entfernt unter den Bäumen öffnete.
    Das ist der Weg! Jetzt aber nichts wie fort von hier!
    Der Schreck, der ihr noch immer in den Gliedern saß, verlieh ihr die Kraft zu laufen. Diesmal blickte sie nicht zur Seite in den Wald und kümmerte sich auch nicht um tief hängende Äste. Stattdessen rannte sie, wie sie selten im Leben gerannt war.
    Es waren keine zweihundert Meter – gleich muss das Licht des Wagens auftauchen.
    Und tatsächlich: Schon nach kurzer Zeit blitzten die Scheinwerfer zwischen den Ästen auf. Lea rannte darauf zu, stolperte ein weiteres Mal – diesmal über eine Baumwurzel   –, fing sich jedoch sogleich wieder und gelangte schließlich zum Straßenrand.
    Gott sei Dank   … Gott sei Dank   …
    Ungestüm riss sie die Wagentür auf, ließ sich auf den Fahrersitz fallen, warf die Tür hinter sich zu und hieb auf den Knopf für die Zentralverriegelung. Dann saß sie eine

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