Das weiße Mädchen
bloß, du kennst dich damit aus?«
»Nein, Mum«, sagte David eine Spur genervt, »ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass ich keine Drogen nehme.Also: Willst du nun etwas über die Comics wissen oder nicht?«
»Entschuldige«, lenkte Lea ein, zog ihren Laptop heran, der immer noch auf dem Wohnzimmertisch stand, und rief noch einmal die anonyme Mail auf, die sie am Morgen bekommen hatte. »Hast du
Dichotomia
bekommen?«
»Ja, liegt hier vor mir. Das ist offenbar der bekannteste Comic von Thanatar. Es sind drei Teile, jeder so fünfzig Seiten lang.«
»Worum geht es da?«
»Gute Frage.« Lea hörte David blättern. »Die ganze Geschichte ist ohne Worte – kein Text, nicht mal Sprechblasen. Soweit ich sehe, läuft da einfach ein Typ durch die Gegend, dessen Kopf zwei Gesichter hat. Das vordere sieht aus wie das von einem Mann, während auf seinem Hinterkopf ein zweites Gesicht ist, das wie eine Frau aussieht. Der Hintergrund ist total düster, fast schwarz; man muss einige Zeit draufschauen, um überhaupt etwas zu erkennen. Der Kerl – wenn es denn ein Kerl ist – wandert durch Wälder und Ruinen, dann steht er plötzlich auf einem Friedhof. Immer wieder kniet er sich hin und lauscht am Boden, als ob er dort irgendetwas hören würde. Auf einigen Bildern ist der Erdboden im Querschnitt gezeigt: Man sieht, dass er voller Knochen und Schädel ist, und alle Schädel haben weit aufgerissene Münder, als ob sie zu dem Mann hinaufschreien.«
»Uuh«, machte Lea. »Schauriges Zeug.«
»Es ist um einiges gruseliger, wenn man es sieht, statt nur davon erzählt zu bekommen.«
»In der Mail stand:
Dichotomia I,
17
,
4. Kannst du damit etwas anfangen?«
»Ich denke schon. 17 ist sicherlich die Seitenzahl, bezogen auf Band 1.« Erneut blätterte David. »Und 4 dürfte das vierte Bild auf der Seite sein.«
»Beschreib mir das Bild.«
»Also: Der Kerl wandert gerade über einen Friedhof. Man sieht Grabsteine im Hintergrund, und auf einigen stehen Namen … Ah, jetzt verstehe ich, was gemeint ist.«
»Nämlich?«
»Auf dem letzten Bild rechts unten ist ein Grabstein zu erkennen, auf dem
C. v. Verchow
steht.«
»C von …?«
»C, Punkt, V, Punkt, wie die Abkürzung eines Adelsnamens.«
»Und Verchow? Genauso geschrieben wie der Ort?«
»Wenn der sich vorne mit V und hinten mit W schreibt, ja.«
»Hm.« Lea dachte nach. »Steht da noch etwas?«
»Ja, die Lebensdaten. 1970 bis 1986.«
In Leas Kopf rastete etwas ein. »1970 bis 1986«, murmelte sie. »Christine Herforth verschwand 1986, im Alter von sechzehn Jahren.
C. v. Verchow:
Christine aus Verchow.«
»Schwacher Hinweis«, meinte David. »Das könnte reiner Zufall sein. Glaubst du wirklich, es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen Comics und der Geschichte, die du recherchierst?«
»Mein anonymer Informant jedenfalls scheint das zu glauben.« Lea überflog erneut die E-Mail . »Der zweite Hinweis bezog sich auf
Dichotomia III,
36.«
David schlug nach.
»Mein Gott …, den Band hatte ich mir noch gar nicht angesehen.« Seine Stimme klang verändert. »Ich möchte mal wissen, wie man zu so einer kranken Fantasie kommt.«
»Geht es immer noch um den Mann mit den zwei Gesichtern?«
»Ja. Ein Polizist führt ihn zu einem Galgen und hängtihn auf. Detailgenau ausgemalt: Man sieht, wie er zappelt und erstickt, wie der Kopf anschwillt und aus beiden Mündern die Zunge hervorbleckt – die eine vorn aus dem männlichen Gesicht, die andere aus dem weiblichen.«
Lea schauderte. Zwar sah sie die Bilder nicht vor sich, doch Davids schwankende Stimme ließ sie auf deren Ausdruckskraft schließen. »Hast du Seite 36 vor dir?«
»Ja, das ist die letzte Seite«, stellte David fest. »Man sieht den Galgenberg und einen Querschnitt durch den Erdboden, mit Gras obendrauf. Unter der Erde ist eine Höhle zu erkennen, in der irgendein Vogel steckt – ich glaube, es ist ein Schwan. Sein Körper ist völlig verdreht, aber er reckt den Hals nach oben und scheint mit aufgerissenem Schnabel zu schreien.«
»Irgendwelche Buchstaben oder Zahlen?«
»Nein …, das heißt – doch! Wenn man genauer hinsieht, sind in den Strichen, die das Gras andeuten, ein paar Buchstaben versteckt.«
»Nämlich?«
»Ein E, ein R, irgendwo weiter hinten ein H, dann ein Kreis …«
»Verchow?«, ahnte Lea.
David schwieg einen Moment.
»Tatsache. Dann sind diese zwei Striche hier das V, und die letzten vier bilden zusammen das W.«
»Das ist kein Zufall mehr«,
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