Das weiße Mädchen
stellte Lea fest.
»Wahrscheinlich nicht«, räumte David unbehaglich ein.
»Der letzte Hinweis bezieht sich auf einen Comic namens
Spectra
«, sagte Lea. »Hast du den auch bekommen?«
»Ja, ich glaube, er war dabei …« David wühlte hörbar zwischen den Heften. »Hier. Da scheint es überhaupt keine zusammenhängende Geschichte zu geben, kein Bildhat etwas mit dem nächsten zu tun. Lauter Horrorzeug: Zombies, Vampire, Gespenster, und immer wieder lebende Tote, die ihre Sargdeckel hochstemmen und schreiend den Kopf herausstrecken – zugegebenermaßen genial gezeichnet.«
»In der Mail steht: Seite 12, Bild 1.«
David blätterte.
»Ah ja, das Bild ist fast vollständig schwarz, aber wenn man genau hinsieht, erkennt man eine Frau oder ein Mädchen in einem dunklen Kleid. Es sieht aus, als ob ihr Gesicht körperlos in der Luft schwebt. Im Hintergrund kann ich die Umrisse von Bäumen erkennen und den Mond. Und hier – am äußersten rechten Rand im Vordergrund – ist eine Art Pfeiler, der dem Mädchen etwa bis zur Hüfte reicht.«
»Ein Leitpfosten?«, erriet Lea. »Wie an einer Straße?«
»Möglich … Mir fällt gerade noch etwas auf: Links oben ist ein sichelförmiger Mond zu erkennen. Die Spitzen der Sichel sind aber gar nicht spitz, sondern eckig. Wenn man genau hinschaut, sieht es aus wie ein Buchstabe: ein großes C.«
Lea hielt den Atem an. »C – wie Christine.«
Beide schwiegen einen Moment.
»Okay«, sagte David schließlich. »Ich gebe zu, das ist echt krass. Es scheint wirklich einen Zusammenhang zu geben. Aber wie ist das möglich? Was weiß dieser holländische Comiczeichner über ein Mädchen, das vor Jahrzehnten aus einem Dorf im Wendland verschwunden ist? Dem Foto nach zu schließen ist er gerade mal Mitte zwanzig und lag damals noch in den Windeln.«
»Allerdings, das ist die Frage …« Lea knetete sich nachdenklich die Lippen. »Ich muss mehr über diesen Mann herausfinden. Am besten rufe ich morgen einmal seinen Verlag an. Vielleicht spricht dort jemand Deutschund kann mir biografische Daten über ihn geben. Schließlich muss er nicht gebürtiger Niederländer sein – und ein Foto kann täuschen. Vielleicht ist er in Wahrheit viel älter.«
»Am Ende hat
er
diese Christine umgebracht«, spekulierte David. »Wenn seine Bedürfnisse so krank sind wie seine Fantasie als Zeichner, könnte ich mir das ohne weiteres vorstellen. Vielleicht ist er ein Serienkiller – diese Irren geben der Öffentlichkeit doch gern verschlüsselte Hinweise auf ihre Verbrechen.«
Du siehst zu viele schlechte Filme,
wollte Lea schon sagen, doch sie sprach den Satz nicht aus. Angesichts ihrer jüngsten Erlebnisse hielt sie nahezu alles für möglich. Sie ertappte sich dabei, dass sie Davids Idee ernsthaft erwog.
»Ich habe Christine übrigens auch gesehen«, hörte sie sich plötzlich sagen, »oder zumindest einen Menschen, der ihre Rolle spielt.«
»Was?« David lachte halb ungläubig, halb verunsichert.
»Vor nicht einmal einer Stunde, an der Straße im Wald.«
Sie überwand sich endlich, die gesamte Geschichte zu erzählen. David lauschte sprachlos.
»Das ist ja der reinste Horror«, murmelte er, nachdem Lea geendet hatte. »Unfassbar! Meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, die Polizei einzuschalten?«
»Ich denke nicht«, wehrte Lea ab. »Bislang habe ich nichts in der Hand als eine undeutliche Beobachtung an der Straße, die anonymen Mails und die Hinweise in den Comics. Ich muss zuerst mehr herausfinden.«
»Würde es dir helfen, wenn du selbst einen Blick in die Comics werfen könntest? Ich habe hier keinen Scanner, aber ich kann die betreffenden Seiten mit Justins Handy fotografieren und sie dir zuschicken. Die Qualität wirdnicht sehr gut sein, denn für die Übertragung muss ich sie skalieren – aber es wäre besser als nichts.«
»Großartig! Würdest du das tun?«
»Sicher.« David machte eine Pause, und als er weitersprach, offenbarte seine Stimme etwas, das Lea zum ersten Mal bei ihm wahrnahm: echte Besorgnis. »Was immer du tust, Mum – pass auf dich auf, ja?«
»Werde ich«, versprach sie ernst.
Lea verbrachte eine unruhige Nacht, wälzte sich von einer Seite auf die andere und stand mehrmals auf, um einen Schluck zu trinken oder in den nächtlichen Garten hinauszublicken. Als sie endlich einschlief, war es nach drei Uhr.
Erneut träumte sie – erstaunlicherweise nicht von ihren Erlebnissen am Vorabend, sondern von Gerhard Winkelmann, dem pensionierten
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