Das weiße Mädchen
Lehrer. Sie stand wieder in seinem Garten und sprach mit ihm, während er mit kräftigen Stichen seines Spatens den Boden bearbeitete. Erst nach einiger Zeit bemerkte Lea, dass er kein Unkraut ausstach, wie er es am Vortag getan hatte, sondern eine rechteckige Grube aushob.
Wonach graben Sie eigentlich?,
hörte sie sich fragen.
Winkelmann wandte ihr das Gesicht zu.
Ich habe es Ihnen doch erklärt,
sagte er.
Die Wenden glaubten, dass ein Begrabener mit offenen Augen im Sarg liegt und nach seinen Angehörigen ruft, weil er es nicht ertragen kann, in sein finsteres Gefängnis unter der Erde gebannt zu sein.
Er nahm den Spaten wieder auf und setzte seine Arbeit fort.
Ist hier denn jemand begraben?,
fragte Lea entsetzt.
Hier – mitten in Ihrem Garten?
Hören Sie die Schreie nicht?,
fragte Winkelmann, hielt erneut inne und wischte sich Schweiß von der Stirn.
Hören Sie genau hin.
Lea horchte. Und plötzlich war ihr tatsächlich, als hörte sie eine Stimme, gedämpft wie aus dem Innern eines geschlossenen Raums. Es war die Stimme eines Mädchens, das verzweifelt um Hilfe schrie, und sie drang von unten herauf – unmittelbar durch den Boden vor Leas Füßen.
Dienstag
Am folgenden Morgen fühlte Lea sich unwohl und zerschlagen. Zwei Nächte lang hatte sie schlecht geschlafen, obwohl das Bett bequem und die Umgebung so still und friedlich war, wie sie es aus ihrer Stadtwohnung kaum kannte. Seit vielen Jahren hatte sie keine Albträume gehabt und zweifelte nicht daran, dass die Beschäftigung mit dem Fall Christine Herforth sie belastete – doch umso weniger war sie bereit, ihre Nachforschungen aufzugeben.
Gleich nach dem Frühstück überprüfte sie ihre E-Mails und fand Davids Nachricht vor, die nicht weniger als dreißig Fotos enthielt. Lea verbrachte eine ganze Stunde damit, die Bilder zu vergrößern und aufmerksam zu studieren. Seinem Versprechen gemäß hatte David zahlreiche Seiten aus den Thanatar-Comics abgelichtet, nicht nur diejenigen, über die sie gesprochen hatten, sondern auch diverse andere. Jedes Bild war akkurat bezeichnet, zum Beispiel »Dichotomia I, 17, 4«, und an manche Dateien hatte er sogar Kommentare angehängt. Lea schmunzelte ein wenig, denn sie kannte die Vorliebe ihres Sohns für Ordnung und Genauigkeit.
Das Schmunzeln verging ihr, als sie sich in die Zeichnungen vertiefte. Wie David geschildert hatte, handelten sie von schaurigen Themen, jedoch nicht in einer oberflächlichbrutalen Weise, sondern subtil und beklemmend. Das Fehlen jeglichen Textes ließ die Bilder noch ausdrucksvoller wirken. Das zeichnerische Talent des Autors stand jedenfalls außer Frage, denn es gelang ihm, in reinem Schwarz-Weiß und mit wenigen Strichen frappierende Wirkungen zu erzielen. Viele Bilder waren fast schwarz, und nur einige helle Flecke deuteten Konturen und Gestalten an. Schon beim allerersten Bild – dem Cover von
Dichotomia I
– erschrak Lea geradezu, denn es stellte nur ein einzelnes Auge dar, das dem Betrachter aus dem Schatten einer kapuzenähnlichen Kopfbedeckung mit einem brillant eingefangenen Ausdruck des Entsetzens entgegenstarrte. David hatte die Seite hinzugefügt, auf der der Grabstein mit der Inschrift »C. v. Verchow« zu sehen war, sowie mehrere darauffolgende Seiten. Der doppelgesichtige Held der Geschichte – sofern es denn überhaupt eine Geschichte war – wanderte durch surreale Schauplätze, durch finstere Wälder und Ruinenstädte. Vermummte Gestalten begegneten ihm, hielten ihm Knochen, menschliche Organe oder blutbefleckte Messer entgegen – und stets folgte ein Bild, das eines seiner beiden Gesichter zeigte, mal das männliche, mal das weibliche, von Angst verzerrt.
So muss sich ein Horrortrip anfühlen,
dachte Lea. Sie hatte nie im Leben harte Drogen genommen, doch von solchen Erlebnissen gehört: Oft vernahmen die Betroffenen Stimmen, manchmal aus der Luft oder in ihrem eigenen Kopf, manchmal aus Wänden oder aus dem Boden.
Als Nächstes vertiefte Lea sich in
Spectra
und fand rasch jenes Bild, das der Erscheinung an der Landstraße in Verchow ähnelte. Die Anspielung war unverkennbar: Das bleiche Gesicht, das unter den Bäumen schwebte, sah bis in jede Einzelheit genau so aus, wie Lea es am Vorabend mit eigenen Augen gesehen hatte.
Der Zeichner kennt es nicht aus Beschreibungen,
dachte sie sofort.
Er hat es selbst gesehen, so viel ist sicher. – Wer bist du, Tom Thanatar? Sicher ist das nicht dein bürgerlicher Name. Was verbirgst du noch, abgesehen von
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