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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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deiner Identität?
    Lea öffnete die letzten Dateien und fand einen Kommentar von David: »Mum, das hier solltest du dir auch ansehen.«
    Der Comic hieß
Sepulchra
und handelte von einem Menschen, der aufgrund seiner Kahlköpfigkeit nicht eindeutig als Mann oder Frau zu identifizieren war. Lea tippte jedoch auf eine Frau, vor allem aufgrund der zarten Gesichtszüge. Die Heldin fand sich eingeschlossen in einem unterirdischen Labyrinth, dessen mit Knochen gefüllte Wandnischen andeuteten, dass es sich um eine Krypta handelte. Zahllose Bilder zeigten ihr schreckerfülltes Gesicht, unheimlich beleuchtet durch eine brennende Fackel, mit der sie sich von Raum zu Raum tastete und vergeblich nach einem Ausgang suchte. Immer wieder schrie sie mit nach oben gewandtem Kopf – zwar hatte der Zeichner auch hier auf Sprechblasen verzichtet, doch der Gesichtsausdruck mit dem weit aufgerissenen Mund und den zusammengekniffenen Augen, aus deren Winkeln Tränen flossen, war unverkennbar. Die Geschichte hatte weder eine ausführliche Handlung noch ein eigentliches Ende. Erst das vorletzte Bild zeigte einen Querschnitt durch den Boden, ähnlich wie bei
Dichotomia III:
Unten war die Frau zu erkennen, die in einer Ecke ihres Kerkers kauerte und unhörbar schrie, darüber die Erde, durchsetzt von Knochen, und ganz oben der Erdboden, auf dem gesichtslose Gestalten umherliefen, ohne das Drama in der Tiefe zu ahnen. Lea rief die letzte Seite auf – und erstarrte.
    Das ganzseitige Schlussbild, im Querformat gezeichnet,zeigte ein verfallenes Haus inmitten eines dichten Waldes. Die Wände waren bis auf Hüfthöhe abgetragen, hier und dort gähnte eine Fensternische, und an einer der Giebelwände ragte ein Kamin aus Bruchsteinen auf.
    Das Haus!,
durchfuhr es Lea schaudernd.
Das Haus im Wald, das ich gestern entdeckt habe! Jede Einzelheit stimmt!
    Eine Weile starrte sie ungläubig auf das Bild – und entdeckte erst nach längerem Hinsehen den Mond, der am rechten Bildrand über den Bäumen stand. Wieder war er sichelförmig, jedoch mit eckigen Enden, sodass er wie der Großbuchstabe »C« aussah.
     
    Unverzüglich rief Lea die Webseite des holländischen Verlages auf, der Tom Thanatars Werke veröffentlichte, fand eine Telefonnummer und griff nach ihrem Handy. Zwar konnte sie kein Wort Holländisch, vertraute aber darauf, dass es ihr gelingen würde, sich verständlich zu machen. Diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht, denn der Mitarbeiter, der ans Telefon ging, verstand rasch ihr Anliegen und stellte sie zu einer Kollegin durch.
    »Guten Tag, mein Name ist Anike Mathijs«, meldete sich eine freundliche Frauenstimme in perfektem Deutsch. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Lea Petersen. Ich bin Journalistin, rufe aus Deutschland an und hätte ein paar Fragen zu Tom Thanatar. Können Sie mir weiterhelfen?«
    »Gern«, antwortete Frau Mathijs. »Ich betreue seine deutschen Fans   – Leserpost, Autogrammservice und so weiter.«
    »Daraus schließe ich, dass Herr Thanatar viele Leser in Deutschland hat.«
    »So ist es. Er stammt selbst aus Deutschland, publiziertaber bei uns, weil die deutschen Behörden einige seiner Werke indiziert haben.«
    »Können Sie mir biografische Daten über ihn geben? Geburtsort und -jahr zum Beispiel?«
    »Es tut mir leid, sein Lebenslauf ist geheim. Herr Thanatar legt großen Wert auf den Schutz seiner Privatsphäre.«
    »Verstehe. Dann nehme ich an, dass Sie mir auch seinen bürgerlichen Namen nicht nennen können – ›Thanatar‹ ist doch gewiss ein Pseudonym.«
    »Auch in diesem Punkt darf ich Ihnen leider keine Auskunft erteilen.«
    «Auf Ihrer Webseite wurde ein Foto des Autors veröffentlicht. Bei all der Geheimniskrämerei zweifle ich, ob der Abgebildete tatsächlich Tom Thanatar ist. Können Sie mir dazu etwas sagen?«
    Frau Mathijs antwortete nicht.
    Lea seufzte. »Gut, ich will Sie nicht in Bedrängnis bringen. Aber ich gehe davon aus, dass der Mann auf dem Foto
nicht
der Autor ist, sondern einfach dem Bild entsprechen soll, das sich seine Fans von ihm machen.«
    »Ich kann dazu   …«
    »…   nichts sagen«, unterbrach Lea sie resigniert. »Ich verstehe schon. Also gibt er sicher auch keine Interviews und vermeidet öffentliche Auftritte.«
    »Stimmt.«
    »Gestatten Sie mir trotzdem noch eine Frage: Sie haben erwähnt, dass Sie für Leserpost zuständig sind. Daraus schließe ich, dass Sie Post an Herrn Thanatar weiterleiten und folglich im Besitz seiner Adresse sind.«
    »Nun – nicht ganz«,

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