Das weiße Mädchen
»süß« gesagt?
»Ruf mich an, wenn ich dir irgendwie helfen kann«, sagte Jörg schließlich mit veränderter Stimme – es klang, als bemühte er sich um einen neutralen Tonfall.
Lea nickte. »Mache ich.«
Lea beschloss, den Tag im Haus zu verbringen und auf Kai zu warten, stellte jedoch bei einem Blick in den Kühlschrank fest, dass sie außer Butter und ein paar Scheiben Käse nichts mehr auf Lager hatte. Selbst der Kaffee war bedenklich zur Neige gegangen. Sie trank viel zu viel – ein Indiz für ihre Anspannung.
Na schön … Ein wenig frische Luft wird mir guttun.
Sie zog sich an und verließ das Haus, um den kleinen Supermarkt an der Hauptstraße aufzusuchen. Der Laden hatte eben erst geöffnet und war noch nahezu leer. Als Lea ihren Korb gefüllt hatte und zur Kasse ging, war sie erleichtert, diesmal nicht die unfreundliche Frau Gätner dort zu sehen, sondern einen jungen Mann, der die Kundin vor ihr bediente.
»Hallo, Frau Heimberger«, grüßte er lächelnd, als die Frau ihre Einkäufe auf das Band stellte. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, flüsterte die Frau, deren rötliches Lockenhaar Lea sofort wiedererkannte: Sie war die Ehefrau des Ortsvorstehers Harald Heimberger. Die einsilbige Antwort hauchte sie mit kaum hörbarer Stimme, als fürchtete sie sich, laut zu sprechen. Gleichzeitig bemerkte sie Lea hinter sich und zuckte zusammen.
Mein Gott, was für ein verschüchtertes Geschöpf,
dachte Lea, die sich an ihren Besuch bei den Heimbergers erinnerte. Etwas indiskret musterte sie die Waren, die der junge Mann soeben scannte: Diät-Joghurt, Diät-Käse, Diät-Margarine und ein Magazin mit der Schlagzeile »Schlank in drei Wochen: Die neue Methode aus den USA«.
Ehrliches Mitleid überkam Lea. Sie selbst hatte jeden Schlankheitswahn schon vor Jahren erfolgreich abgetan, bedauerte jedoch alle Frauen, denen dieses Thema permanent Laune und Appetit verdarb. Frau Heimberger – rund zwanzig Jahre älter als Lea, dabei gut aussehend und mit reizvoller weiblicher Figur – war ein typisches Opfer dieser Manie.
» Sie
müssen doch nicht abnehmen«, sagte Lea, die sich angewöhnt hatte, auch gegenüber Fremden ihre Meinung deutlich auszusprechen. »Warum tun Sie sich das an? Sie sehen prima aus!«
Frau Heimberger erstarrte und warf ihr einen Seitenblick zu, in dem nackte Panik flackerte.
»Finde ich auch«, stimmte der freundliche Kassierer unerwartet zu. »Vierzehn achtundneunzig.«
Frau Heimberger kramte mit zittrigen Fingern nach ihrer Kreditkarte, wobei sie den Kopf gesenkt hielt, sodass die rötlichen Locken ihr Gesicht verbargen. Währendder Kassierer die Zahlung abwickelte, raffte sie hektisch ihre Einkäufe in eine Tüte und schickte sich an, den Laden zu verlassen.
»Vergessen Sie Ihre Mastercard nicht!«, rief der junge Mann ihr nach, die Karte in der ausgestreckten Hand. Erschrocken hielt sie inne, kehrte um, ergriff die Karte und huschte ohne Gruß oder Dank zur Tür.
»Arme Frau«, sagte Lea, die ihr nachblickte, während sie ihre Einkäufe auf das Band stellte. »Was ist denn nur los mit ihr?«
Der Kassierer zuckte die Achseln. »Sie ist immer so ängstlich. Vor Frau Gätner fürchtet sie sich besonders. Sie kommt immer nur donnerstags hierher, wenn ich Dienst habe.« Er musterte Lea interessiert. »Sie sind die Journalistin, nicht wahr?«
Lea lächelte. »Ist wohl zwecklos, es zu leugnen – hier kennt ja doch jeder jeden.«
Der junge Mann lachte gutmütig. »Tja, daran müssen Sie sich gewöhnen. Mir geht es auch nicht anders. Ich wohne in Groß Heide und bin nur einmal die Woche hier, aber trotzdem kennt jeder im Dorf meine Schuhgröße, meine Zigarettenmarke, mein Autokennzeichen und meine komplette Lebensgeschichte – keine Ahnung, woher. Es hat auch sein Gutes …« Er grinste verschmitzt. »Wenn ich mal den Geburtstag irgendeines Verwandten vergessen habe, brauche ich bloß den nächsten Kunden zu fragen.«
Lea erwiderte sein Lachen, zahlte und verabschiedete sich mit einem freundlichen Kopfnicken.
Draußen auf der Straße begegnete sie erneut Frau Heimberger, die mit gesenktem Kopf nahe der ehemaligen Bushaltestelle stand, die Einkaufstüte schützend vor den Leib gedrückt. Offenbar wartete sie auf jemanden. Ihre ganze Haltung drückte Furcht aus, als rechnete siejeden Moment mit einem Schlag aus unbekannter Richtung. Wiederum empfand Lea Mitleid und bereute zugleich, die Frau in Verlegenheit gebracht zu haben. Einem Impuls folgend, trat sie an ihre
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