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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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frappierend an eine Gerichtsverhandlung erinnerte, führte eine mächtige Figur in der Mitte, noch größer dargestellt als ihre Beisitzer, mit arrogantem Blick und kreisrund gestutztem Vollbart. Hier musste Lea nicht lange nach einer Inschrift suchen, denn der Mann trug eine Krawatte, auf der deutlich »HH« zu lesen war, ein Buchstabe unter dem anderen.
    Harald Heimberger
, dachte Lea sofort,
der Ortsvorsteher.
    Die dritte Gestalt rief keine Assoziationen wach, obwohl es Lea gelang, ein »T« auf ihrem Hemd zu identifizieren.
    Oktober
1984, fiel ihr plötzlich ein.
Zu dieser Zeit grassierte die Katzenseuche in Verchow.
Offensichtlich hatte Christine symbolisch dargestellt, wie ihre Familie von den Einwohnern des Dorfes beschuldigt wurde, für die Verbreitung der Krankheit verantwortlich zu sein. Die Person mit dem »T« war möglicherweise der Tierarzt, der damals Gätners Schweine behandelt hatte.
    Mit größtem Interesse blätterte Lea weiter – und stieß auf eine Lücke, denn nach einer freigelassenen Seite begannen die nächsten Eintragungen bereits mit »Mai 85«. Die Bilder zeigten andere Motive, und auch der Zeichenstil der mittlerweile fünfzehnjährigen Christine hatte sich verändert: Er war deutlich professioneller, detailreicherund zugleich düsterer geworden. Manche Zeichnungen zeigten überhaupt keine Personen mehr, sondern unbekannte Schauplätze, bevorzugt Friedhöfe mit kunstvoll schattierten Grabsteinen. Auf einem Bild lehnte sich Christine gegen eine Mauer, die Beine im Gras ausgestreckt, den Blick gesenkt. Ihr Gesicht war weit ausdrucksvoller gezeichnet als früher. Die Augen, nun dunkel umrandet, blitzten unheimlich aus dem Schatten ihres schwer herabfallenden Haars. Schüler oder Lehrer tauchten überhaupt nicht mehr auf, dafür mehrmals ein Junge, der Christine heimlich zu beobachten schien. Bald fiel Lea auf, dass es kaum eine Zeichnung gab, auf der dieser Junge nicht zu sehen war, oft versteckt am Bildrand, wo sein Gesicht mit übergroßen Augen hinter einem Baum hervorspähte, durch ein Mauerloch blickte oder sich aus dichtem Buschwerk erhob. Auf einer ganzseitigen Zeichnung, an deren Rand »Juli 85« gekritzelt war, lag Christine mit ausgebreiteten Armen im Gras, von oben gesehen, sodass ihre Haltung der eines Gekreuzigten ähnelte. Lea fiel auf, dass das Mädchen sich erstmals eine Andeutung weiblicher Form gegeben hatte, denn eine Wellenlinie quer über dem Körper deutete ihre Brüste an. Am rechten Bildrand hinter einem Baum – unter Vernachlässigung der perspektivischen Einheit im Profil dargestellt – hockte der Junge, blickte mit hervorquellenden Augen zu ihr hinüber und presste eine Hand in seinen Schoß. Die karikaturhafte Darstellung war von brutaler Deutlichkeit: Er masturbierte.
    Wer ist der Kerl?,
dachte Lea. Er schien Christine ständig zu verfolgen, während sie ihn nicht beachtete. Aufmerksam suchte Lea nach dem üblichen Buchstabencode – und erkannte endlich, dass der gestreifte Pullover des Jungen einen auffälligen Querbalken zeigte, der zwei waagerechte Balken zu einem »Z« vervollständigte.
    Z… Zirner?,
dachte Lea plötzlich. Das war gewiss ein voreiliger Verdacht, denn sicher hatte es in den letzten dreißig Jahren diverse Menschen in Verchow gegeben, deren Familienname mit einem Z begann.
    Unsinn,
beschwichtigte sie sich.
Kai ist heute fünfunddreißig, war damals also erst zehn Jahre alt – und er hat erwähnt, dass seine Familie nicht in Verchow lebte.
    Erneut musterte sie die Zeichnungen, wobei ihr auffiel, dass der halbrunde Halsausschnitt des gestreiften Pullovers als »U« gelesen werden konnte, mit dem »Z« direkt darunter.
    U.   Z. – Ob das seine Initialen sind?
    Lea blätterte weiter und fand Zeichnungen völlig anderen Inhalts, auf denen der Junge nicht auftauchte. Christine saß augenscheinlich in einem Zugabteil. Ein Schaffner streckte den Kopf herein und machte eine drohende Geste, weil sie ihre Füße auf die gegenüberliegende Bank gelegt hatte. Es folgten Skizzen von Wolkenkratzern, Brücken und mehrspurigen Straßen. Auf einem Bild erkannte Lea deutlich das markante Profil der Michaeliskirche in Hamburg. Christine, dargestellt als dunkle Figur in einer farblosen Menschenmenge – wie ein schwarzes Schaf unter lauter weißen   –, schien durch die Straßen zu irren. Auf dem nächsten Bild sah man sie zusammen mit anderen dunklen Gestalten auf einer Treppe sitzen, über der das Schild einer U-Bahn -Station aufragte. Es folgten

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