Das weiße Mädchen
schmutzigen Kleider abzustreifen. Dann gönnte sie sich eine heiße Dusche, die wider Erwarten guttat und ihren Kopf klärte. Als sie aus dem Bad zurückkam, ein Handtuch um die nassen Haare geschlungen und ein zweites um die Hüften, klingelte das Telefon.
Endlich …
Rasch nahm sie das Handy auf und sah mit Erleichterung Jörgs Nummer auf dem Display.
»Lea! Was ist los?«
Diesmal verschwieg sie nichts, sondern legte rückhaltlos offen, was in den letzten zwei Tagen geschehen war, mit Ausnahme ihrer Beziehung zu Kai Zirner. Jörg schwieg anhaltend, gerade so, als hätte es ihm die Sprache verschlagen.
»Tja, und jetzt weiß ich nicht recht, was ich tun soll«, schloss Lea. »Dieser Kerl, der sich für eine Frau ausgibt, hat definitivetwas mit der Geschichte zu tun. Vielleicht ist er wirklich als Hausmeister angestellt, aber der Besitzer des Hauses weiß garantiert nicht, was er dort heimlich treibt. Vielleicht sollte ich die Polizei rufen …«
»Das solltest du nicht«, sagte Jörg bestimmt.
»Warum nicht?«
»Was willst du der Polizei erzählen? Es ist kein Verbrechen, sich als Frau zu verkleiden. Vielleicht ist der Typ schlicht Transvestit. Er hat nichts Strafbares getan – im Gegensatz zu dir.«
»Aber ich bin sicher, dass er es ist, der seit Jahren dieses Geistertheater an der Straße inszeniert!«
»Dafür würde man ihn allenfalls wegen groben Unfugs drankriegen – vorausgesetzt, du hättest Beweise, und die hast du nicht.«
»Er hat eine Art Altar mit Christines Sachen eingerichtet«, fuhr Lea beharrlich fort, »mit den Hinterlassenschaften einer Ermordeten! Ist das nicht verdächtig genug?«
»Mag sein.« Jörgs Stimme klang eher besorgt als skeptisch. »Aber von diesem Altar solltest du niemandem etwas erzählen, erst recht nicht der Polizei. Wie willst du denn erklären, dass du davon weißt? Lea, du bist in ein Haus eingedrungen und du hast ein Buch gestohlen!«
»Es gehört ihm nicht!«, verteidigte sich Lea.
»Woher willst du das wissen? Vielleicht ist dieser Mannder legale Eigentümer des Hofs und wird von den Leuten im Dorf nur deshalb für eine Haushälterin gehalten, weil er gerne Frauenkleider anzieht. In diesem Fall solltest du froh sein, wenn
er
dich nicht anzeigt! Er wird das Fehlen des Buchs bemerken, und dann wird er auch wissen, dass die Geräusche, die er im Keller hörte, nicht von einer seiner Katzen stammten. Er weiß, dass jemand bei ihm eingebrochen ist, und vermutlich kann er sich auch denken, dass du es warst. Immerhin weiß das ganze Dorf, dass du dich für diese Geistergeschichte interessierst.«
Lea biss sich auf die Lippen. Was Jörg sagte, war nicht von der Hand zu weisen.
»Ich glaube trotzdem nicht, dass er mich anzeigt«, sagte sie in dem Bemühen, sich zu rechtfertigen. »Er hat selbst zu viel zu verbergen. Offenbar hockt er doch seit Jahren inkognito auf diesem Hof und erweckt den Anschein, das Haus sei unbewohnt, damit er seine Rolle als Christines Geist spielen kann. Was auch immer er damit bezweckt, jedenfalls wird er sich nicht freiwillig die Polizei ins Haus holen.«
»Umso schlimmer.« Jörg seufzte gequält. »Ich will dich ja nicht beunruhigen, aber … hast du schon einmal ernsthaft darüber nachgedacht, was du da eigentlich tust? Du versuchst, einen Mord aufzuklären! So etwas ist gefährlich, Lea. Und besonders gefährlich ist es, nachts in die Häuser irgendwelcher verdächtiger Personen einzubrechen, Spuren zu hinterlassen und die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Ich kann nur hoffen, dass dieser Transvestit einfach ein harmloser Spinner ist – andernfalls müsste ich mir Sorgen um dich machen.«
Lea fiel keine Erwiderung ein. Jörg hatte recht: In ihrem Eifer, dem Rätsel auf den Grund zu gehen, war sie zu weit gegangen und hatte nicht an die Konsequenzen gedacht.
»Okay.« Sie atmete tief aus. »Sag mir ehrlich: Was sollte ich deiner Meinung nach tun?«
»Abreisen«, riet Jörg, »und zwar möglichst noch heute. Wenn du willst, kannst du ja von hier aus weiter recherchieren.«
»Abreisen?« Lea dachte an Kai, der am Nachmittag zurückkehren würde. »Das kann ich nicht.«
Jörg seufzte. »Na schön. Aber versprich mir, in Zukunft vorsichtiger zu sein.«
»Ich passe schon auf mich auf«, versprach Lea. »Aber es ist süß, dass du dir Sorgen um mich machst.«
Jörg schwieg verdutzt, und auch Lea wurde plötzlich verlegen. Der letzte Satz war ihr herausgerutscht, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Hatte sie wirklich
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