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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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größtenteils mit Bleistift oder schwarzem Kugelschreiber ausgeführt, zeigten das Mädchen in den verschiedensten Situationen, einmal allein vor einer Waldkulisse, ein andermal auf einem Pferd reitend, dann an einem Tisch sitzend, den Kopf in eine Hand gestützt und offensichtlich über Schularbeiten brütend. Die anderen Personen, die auf einigen Bildern erschienen, wirkten wie Karikaturen: Christines Mutter beispielsweise, deren Gesicht fast vollständig aus einer riesigen Brillebestand, ragte stets aus einem Pulk von Katzen auf, die sich um ihre fülligen Beine drängten. Auch Martin Herforth hatte Lea bald entdeckt, denn auf einigen Zeichnungen stand er im Hintergrund vor einer Staffelei. In treffender Parodie einer Künstlergeste war seine Hand anmutig erhoben, mit zwei vornehm abgespreizten Fingern, während an der Spitze des Pinsels ein Farbtropfen zitterte.
    Kein schmeichelhaftes Bild, das sie von ihren Eltern entwirft
, dachte Lea.
Die Mutter eine Matrone in einem Meer von Katzen, der Vater ein selbstverliebter Schöngeist.
    Neugierig blätterte sie weiter und fand Zeichnungen, deren Hintergründe Pulte und Tafeln andeuteten, also vermutlich Szenen in der Schule darstellten. Verschiedene Schüler waren zu erkennen, Mädchen und Jungen, außerdem Lehrer, die sich von ihnen abhoben, indem sie nahezu doppelt so groß gezeichnet waren. Jeder einzelne schien eine Karikatur seiner selbst zu sein, mit auffällig übertriebenen Merkmalen wie steifen Haarbüscheln, vorspringenden Nasen, Bärten und Brillen. Alle Personen waren ständig in Aktion: Ein Lehrer verteilte Hefte, zwei Mädchen zankten sich um eine Bürste, Jungen bolzten auf dem Schulhof, gerieten in eine Rauferei oder zogen sich gegenseitig an den Haaren. Nur das Mädchen mit dem halb verdeckten Gesicht   – Christine – stand stets abseits, zumeist am linken Bildrand, ohne an den Spielen und Streitereien der anderen teilzunehmen. Stattdessen waren ihre Augen stets auf einen imaginären Punkt außerhalb des Bildes gerichtet.
    Sie hatte keine Freunde
, erinnerte sich Lea an die Worte von Gerhard Winkelmann.
    Beim Gedanken an Winkelmann blätterte sie noch einmal zu einer Zeichnung zurück, die sie an den Lehrer erinnerte.Damals war er ein Vierteljahrhundert jünger gewesen, doch Lea war sich ziemlich sicher, die hohe Stirn und das Ziegenbärtchen wiederzuerkennen. Dann erst fiel ihr auf, dass die Figur eine Krawatte trug, auf der mit wenigen Strichen ein Muster skizziert war – sah man genauer hin, bildete es den Buchstaben »W«.
    Das ist kein Zufall
, erkannte Lea und musterte rasch die übrigen Zeichnungen. Und tatsächlich: Obwohl alle Personen stark vereinfacht dargestellt waren, trug jede Einzelne irgendwo am Körper ein Muster, das die Form eines Buchstabens ergab. Ein Junge beispielsweise, der mit feistem Grinsen dargestellt war, trug eine Art Pullover mit V-Ausschnitt – wobei der Ausschnitt so tief herabgezogen war, dass das »V« wie eine Inschrift auf seiner Brust prangte. Ein Mädchen wiederum war mit einer Halskette dargestellt, deren Anhänger in etwa die Form einer Schlange besaß und ohne Mühe als »S« gelesen werden konnte.
    Aufgeregt blätterte Lea weiter, in der Hoffnung, auf identifizierbare Personen zu stoßen. Früher als erwartet wurde sie fündig, denn unter der Überschrift »12.   Oktober 84« fand sich eine ganzseitige Zeichnung im Querformat, die sofort ihre Aufmerksamkeit fesselte. Am unteren Bildrand, unnatürlich klein dargestellt, standen die drei Herforths, Christine mit zu Boden gewandtem Gesicht, die Mutter mit der Katzenwolke um die Füße und der Vater mit der Staffelei unter dem Arm. Den oberen Teil des Bildes füllte ein halbrunder Tisch aus, der die Familie einschloss. Hinter diesem Tisch saßen – überlebensgroß dargestellt – drei Männer und blickten mit finsteren Gesichtern auf die Herforths herab. Anfangs erkannte Lea keinen von ihnen, dann jedoch entdeckte sie auf der breiten Brust eines der Männer eine Spirale, die mit etwas Fantasie ein »G« ergab. Der drohende Gesichtsausdruckmit dem strichförmigen Mund über gespaltenem Kinn war so charakteristisch, dass Lea augenblicklich an den Bauern Gätner denken musste. Dieser Verdacht wurde zur Gewissheit, als ihr auffiel, dass die Nase des Mannes sehr dick und dunkel schraffiert war, ähnlich einer Schnapsnase in einem Comic.
    Sieh an
, dachte Lea.
Offenbar hatte Gätner schon damals ein Alkoholproblem.
    Den Vorsitz der Veranstaltung, die

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