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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Seite. Hier und dort war ein Datum hingekritzelt.
    Es ist ein Tagebuch,
erkannte Lea. Statt ihre Erlebnisse aufzuschreiben, hatte Christine das Tagesgeschehen in Bildern festgehalten, teilweise sogar in Bildergeschichten, die wie Comics wirkten, jedoch ohne Sprechblasen auskamen.
    Wie Tom Thanatar,
dachte Lea sofort.
Irgendeine Verbindung besteht zwischen den beiden: dasselbe Talent, derselbe Stil, beide kommen ohne Wörter aus.
    Erneut lebte ihre Idee auf, dass Christine noch am Leben sein könnte. War sie es womöglich, die sich unter dem Pseudonym »Thanatar« verbarg?
    Das wird immer absurder,
wies Lea sich selbst zurecht.
In diesem Haus lebt ein Mann, der sich als Frau tarnt – und ich spekuliere über eine Frau, die sich als Mann ausgibt.
    Es war zu früh, irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Umso weniger konnte Lea sich dazu durchringen, das Tagebuch an seinen Platz zurückzulegen. Es war mehr als hundert Seiten dick und vermutlich – wenn man lernte, die Bilder zu verstehen – randvoll mit aufschlussreichen Informationen. Die Daten begannen mit »3.August 1983« und reichten, mit längeren Pausen, bis zum Frühjahr des Jahres 1986 – dem Jahr, in dem Christine verschwunden war.
    Lea überlegte nicht lange. Ihre Skrupel, dem Hausfriedensbruch noch einen Diebstahl hinzuzufügen, waren bedeutend geschrumpft, seit sie mit eigenen Augen gesehen hatte, welches falsche Spiel die vermeintliche Haushälterin trieb. Entschlossen schob sie das Tagebuch in ihren Hosenbund, drapierte die übrigen Papiere so, dass sein Fehlen nicht auf den ersten Blick zu erkennen war, und trat den Rückweg an. Sorgfältig schloss sie die Tür, stellte die Taschenlampe an ihren Platz zurück, schlich die Stufen zum Korridor hinauf und löschte das Licht. Nun galt es nur noch, den Raum mit dem offenen Fenster wiederzufinden, um so rasch wie möglich ins Freie zu entkommen.

Donnerstag
    Lea verbrachte eine schlaflose Nacht, nachdem sie ohne weitere Zwischenfälle den Rückweg bewältigt hatte und in ihre Ferienwohnung zurückgekehrt war. Sie fand nicht einmal die Ruhe, ihre beschmutzten Kleider abzulegen und unter die Dusche zu gehen. Stattdessen ging sie nervös im Wohnzimmer auf und ab und wünschte sich verzweifelt, mit irgendjemandem reden zu können. Die Zeit kroch dahin, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt, nach ihrem Handy griff und die Nummer von Jörg Hausmann wählte, um eine Nachricht auf seiner Mailbox zu hinterlassen.
    »Bitte ruf mich an, wenn du morgen früh in der Redaktion bist! Es ist dringend.«
    Die Uhr über der Küchenzeile zeigte halb vier. Lea überwand sich, eine halbe Stunde still auf dem Sofa zu verbringen und zumindest ein wenig zu dösen. Christines Tagebuch lag neben ihr auf dem Glastisch, doch irgendein Instinkt riet ihr ab, sich in die Zeichnungen zu vertiefen – wahrscheinlich hätten sie ihre Erregung noch gesteigert. Stattdessen schloss sie die Augen und bemühte sich, abzuschalten.
    Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste Lea schließlich doch eingeschlafen sein, denn sie schreckte aus einem Traum hoch und fand sich in recht unbequemer Haltung, mit schmerzendem Rücken, auf dem Sofa wieder.Stöhnend setzte sie sich auf und presste eine Hand in die Flanke, die sich über die ungefederte Schlafstatt beschwerte.
    Jede Nacht Albträume,
dachte sie erschöpft.
Das geht schon so, seit ich hier bin.
    Sie erinnerte sich genau: In ihrem Traum war sie wieder im Haus der Herforths gewesen, eingeschlossen in dem finsteren Kartoffelkeller mit dem Altar. Diesmal war die Tür fest verriegelt gewesen – obwohl Lea sich nicht erinnern konnte, in der Realität Schloss oder Riegel bemerkt zu haben. Aus dem Parterre des Hauses hatte sie Schritte gehört, wahrscheinlich diejenigen des unheimlichen Mannes, der sich als Frau verkleidete. Während sie jedoch in der vergangenen Nacht alles darangesetzt hatte, unbemerkt zu bleiben, hatte sie in ihrem Traum gerufen, geschrien und sogar mit den Fäusten gegen die Decke getrommelt, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte gewusst, dass sie in dem finsteren Verlies gefangen war, und ihre einzige Hoffnung hatte darin bestanden, dass er sie befreite. Doch er war nicht in den Keller herabgekommen. Alles, was sie gehört hatte, waren seine bedächtigen Schritte gewesen, die sich mal nach links entfernten, dann wieder nach rechts, als ginge er nachdenklich auf und ab.
    Benommen sah Lea auf die Uhr: kurz nach acht. Sie zwang sich, aufzustehen und endlich die

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