Das weiße Mädchen
meine
Lea starrte lange auf das Blatt, dessen Lineatur verriet, dass es aus einem Schulheft herausgerissen worden war.
Koks …
So lautete das Szene-Kurzwort für Kokain.Unwillkürlich musste sie an ihre Jugendfreundin Iris denken, die ebenfalls zu Drogen gegriffen hatte, um ihrem Alltag zu entfliehen. Bei Iris war es Heroin gewesen – die Königin der Opiate, euphorisierend und einschläfernd zugleich, rasch wirksam, ebenso schnell abhängig machend und in letzter Instanz oft tödlich. Christine dagegen schien sich an Stimulanzien gehalten zu haben. Kokain – auch dies wusste Lea – war ein aufputschendes Mittel, das Hunger, Schmerz und Müdigkeit vertrieb und nichts zurückließ als ein überwältigendes Gefühl von Stärke und Gleichgültigkeit gegenüber dem Rest der Welt. War es das, was Christine gebraucht hatte?
Aber wie hat sie das angestellt? Wie ist sie hier in der tiefsten Provinz an harte Drogen gekommen?
Ihr fiel ein, was der Lehrer Gerhard Winkelmann erzählt hatte: Dass Christine manchmal wochenlang der Schule ferngeblieben war, vermutlich, um sich in irgendeiner größeren Stadt herumzutreiben. Am Tag ihres Verschwindens hatte sie ihre Eltern angerufen und ihre Rückkehr angekündigt, nachdem sie zwei Wochen lang verschollen gewesen war. Wo hatte sie sich herumgetrieben? In Hamburg vielleicht, wo es eine umfangreiche Drogenszene gab? Hatte sie womöglich einen Entzug hinter sich gebracht und wollte nach Hause zurückkehren, um sich mit ihren Eltern zu versöhnen?
Lea suchte weiter, fand jedoch keine vergleichbaren Hinweise mehr. Die meisten der zerfledderten Hefte enthielten lediglich Schulaufsätze. Dennoch überflog sie einige der Texte, vor allem diejenigen aus den höheren Klassenstufen.
Hat die Verstädterung im Zuge der industriellen Revolution die Lebensbedingungen der Menschen eher verbessert oder verschlechtert? Begründen Sie Ihre Meinung.
Dazu hatte Christine Folgendes geschrieben:
Ich weiß schon, was Sie hören wollen: Dass die Leute vom Land in die Städte ziehen mussten, um dort in den Fabriken zu arbeiten, dass sie den Rückhalt in ihren bäuerlichen Familien verloren haben, dass sie zu zehnt in notdürftigen Unterkünften wohnen mussten und so weiter. Wir sprechen ja seit Wochen im Unterricht darüber. Ich meine aber, dass die Verstädterung den Menschen trotzdem Vorteile gebracht hat. Wer sein ganzes Leben in einem Bauerndorf verbringt, kriegt so gut wie nichts von der Welt zu sehen und macht alles genauso wie seine Vorfahren, ohne jemals über den Tellerrand zu sehen. Ich behaupte, Landleben macht dumm oder sorgt zumindest dafür, dass beschränkte Leute auch beschränkt bleiben. Was war so toll daran, vor hundert Jahren in irgendeinem Kuhdorf zu hocken? Wenn man Pech hatte, suchten die Eltern einem auch noch den Ehemann aus, möglichst aus der Nachbarschaft. Dann durfte man von morgens bis abends auf seinem Hof ackern, bis man einen krummen Rücken bekam, ein paar Inzuchtkinder kriegen und am Ende bei der neunten oder zehnten Geburt krepieren. Toll.
Ich glaube, dass es den Abwanderern gutgetan hat, in die Städte zu ziehen. Da mussten sie zwar in den Fabriken arbeiten, hatten aber doch wenigstens viele Menschen um sich – und wo viele Menschen sind, gibt es auch neue Ideen. Man kann Leute kennenlernen, man kann Freundschaften schließen und sich seinen Ehemann selbst aussuchen. Und man stellt die eigene Lebensweise infrage, weil man auf Menschen trifft, die anders leben als man selbst. Deshalb sind alle guten Ideen, die die Menschheit wirklich weitergebracht haben, in Städten entstanden, von der Erfindung der Schrift bis zur Arbeiterbewegung. Ich würde jedem, der in einem Ort unter
10 000
Einwohner
lebt, raten, in eine Stadt zu ziehen. Später kann man ja aufs Land zurückkehren und da seinen Lebensabend genießen, aber immerhin hat man dann etwas von der Welt gesehen und regt sich weder über die »Jugend von heute« auf noch über die ungestutzten Büsche in Nachbars Garten.
Dem Text folgte eine Notiz des Lehrers:
Sehr subjektiv, aber mit Elan begründet. 2 -/Wk
»Wk« war vermutlich niemand anders als der Geschichtslehrer Gerhard Winkelmann.
Lea blätterte weiter, las hier und dort einen Absatz, fand jedoch nichts mehr von Interesse und griff schließlich nach einem in marmorierte Pappe gebundenen Buch. Als sie es aufschlug, stieß sie abermals auf Bilder: Zeichnungen, größtenteils mit Bleistift ausgeführt, bedeckten Seite um
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