Das weiße Mädchen
Seite.
»Frau Heimberger? Bitte entschuldigen Sie. Es tut mir leid, dass ich vorhin so indiskret war. Aber ich meinte es ganz ehrlich, als ich sagte, dass Sie prima aussehen.«
Die Angesprochene zuckte zusammen, biss sich auf die Lippen und schlug die Augen nieder. Ratlos stand Lea neben ihr.
Herr im Himmel – am liebsten würde ich sie in die Arme nehmen.
In diesem Moment näherte sich ein dunkelblauer Mercedes, bremste und fuhr unmittelbar vor ihnen an den Straßenrand. Ein Mann mit dunkler Sonnenbrille lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür.
»Nun komm schon!«, rief er ungeduldig, als Frau Heimberger sich zögernd in Bewegung setzte, um neben ihm Platz zu nehmen. Dabei sah sie Lea verschüchtert an. Der Mann folgte dem Blick, schien plötzlich zu erraten, wen er vor sich hatte, und starrte Lea feindselig an.
»Lassen Sie gefälligst meine Frau in Ruhe!«, sagte er barsch.
»Guten Tag, Herr Heimberger«, erwiderte Lea betont höflich. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ihre Frau und ich hatten nur eine kleine Unterhaltung, weil wir uns zufällig beim Einkaufen trafen.«
»Unterhaltung?« Heimberger wandte sich wütend seiner Frau zu, die erschrocken den Kopf schüttelte.
»Keine Sorge«, fügte Lea hinzu. »Sie hat den Mund genauso wenig aufgemacht, wie sie es jetzt tut – dafür sorgen Sie offenbar.«
»Ich möchte wissen, was Sie das angeht!«, knurrte der Ortsvorsteher. »Wir reden nicht mit Ihnen, verstanden? Meine Frau nicht und ich auch nicht!«
»Verstanden«, bestätigte Lea. »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.«
Heimberger quittierte den freundlichen Wunsch mit einem Schnauben, knallte die Tür zu und ließ den Wagen an. Die Reifen quietschten, als der Mercedes auf die Straße zurückscherte und mit aufheulendem Motor das Ortsschild passierte.
Mit diesem Mann habe ich es mir offensichtlich verdorben,
dachte Lea beinahe amüsiert.
Und das, obwohl er mich nicht einmal kennt. Was befürchtet er eigentlich? Weiß seine Frau etwas, das für mich von Interesse ist?
Nachdenklich schlenderte sie mit ihrer Einkaufstüte ins Dorf zurück.
Unter der Wohnungstür fand Lea zu ihrem Erstaunen einen handgeschriebenen Zettel vor:
Kai hat gerade angerufen, er muss noch etwas erledigen und kommt wohl erst gegen acht. Ich soll Sie grüßen! Bin im Garten, falls Sie etwas brauchen. R. Zirner.
Lea schmunzelte. Sie hatte die Wohnungstür unverschlossen gelassen, und es rührte sie, dass der alte Mann nicht einfach hereingekommen war, sondern den Zettel unter der Tür durchgeschoben hatte. Offenbar respektierte er die Intimsphäre der Gäste im eigenen Haus.
Acht Uhr
, dachte sie und spürte beim Gedanken an Kais Rückkehr einen Stich freudiger Erregung. Was sollte sie anziehen? Sollte sie das Bett neu beziehen, oder sah das allzu berechnend aus? Sollte sie auf Lippenstift verzichten, der ja doch verschmieren würde?
Albernes Mädchen
, schalt sie sich selbst.
Du bist doch keine siebzehn mehr! Jetzt wird erst einmal gegessen. Zeit zum Aufgeregtsein hast du später noch genug.
Sie brühte sich einen Kaffee auf, zog sich mit demFrühstückstablett auf die Couch zurück und beschloss, endlich Christines Tagebuch in Augenschein zu nehmen. Das war eine gute Idee, denn der geheimnisvolle Fund absorbierte augenblicklich ihre Aufmerksamkeit. Lea vertiefte sich derart darin, dass sie das Abräumen vergaß und Stunden auf der Couch verbrachte, das Buch auf den Knien.
Es war nicht leicht, den Sinn der Zeichnungen zu verstehen, die teilweise ohne ersichtlichen Zusammenhang aufeinanderfolgten. Auch die dargestellten Personen gaben Lea Rätsel auf, wenngleich sie rasch begriffen hatte, wie Christine sich selbst darstellte: in Gestalt eines Mädchens, dessen Gesicht zur Hälfte durch lang herabhängendes Haar bedeckt war. Die Figur wirkte abstrakt und zugleich gespenstisch, zumal ihr Körper nur mit wenigen Strichen angedeutet war. Noch einmal prüfte Lea das erste Datum im Buch, »3. August 1983«. Zu dieser Zeit war Christine vierzehn Jahre alt gewesen – ein durchschnittliches, wenngleich hübsches Mädchen mit dunkelblondem Lockenhaar. Die Selbstporträts im Tagebuch hingegen zeigten sie von Anfang an mit glattem Haar. Ihre Kleider waren stets dicht schraffiert, sodass sie nahezu schwarz wirkten. Es schien, als hätte Christine sich bereits damals in jener Gestalt gesehen, deren reales Ebenbild sie erst in den folgenden Jahren geworden war.
Die Zeichnungen,
Weitere Kostenlose Bücher