Das weiße Mädchen
ganze Serien von Bildern, die immer mehr unbekannte Personen darstellten, darunter eine spindeldürre Frau mit eingefallenem Gesicht, ein Mädchen, auf deren Schulter eine Ratte hockte, ein Junge mit Irokesenfrisur sowie mehrere gesichtslose Gestalten in schwarzer Kleidung. Auf einem Bild überreichte das Mädchen mit der Ratte Christine ein Röhrchen, das Lea zunächst für eine Zigarette hielt. Dann jedoch entdeckte sie im Hintergrund denJungen mit der Irokesenfrisur, der sich über einen Tisch beugte, ein ähnliches Rohr im linken Nasenloch. Auf der Tischplatte war ein kleines Häufchen Pulver zu erkennen.
Es folgten surreale Bilder voller fantastischer Szenerien wie aus einem experimentellen Film: Christine flog mit ausgebreiteten Armen über Baumwipfel hinweg; aus einer Mauer griffen Hände nach ihr, dann plötzlich regneten Fische vom Himmel, und am Ende fand sie sich in einem Meer von Tausendfüßlern, die an ihren Kleidern hinaufkrabbelten.
Es ist, wie ich vermutet habe,
dachte Lea.
Sie ist in Hamburg gewesen und in die Drogenszene geraten. Selbst ihre Erlebnisse im Rausch hat sie minutiös als Zeichnungen festgehalten.
Auf den letzten Seiten des Tagebuchs erreichten die Daten das Frühjahr 1986. Die Schauplätze wechselten: Mal war im Hintergrund die Stadt mit ihren Hochhäusern zu erkennen, dann wieder eine Baumkulisse, die auf das heimatliche Verchow hindeutete. Christines Vater stand mit aufgerissenem Mund vor ihr, offenbar schimpfend, während ihrer Mutter, die sich im Hintergrund hielt, absurd große Tränen unter der Brille hervorquollen. Dann folgte ein mit stilisierten Herzen verziertes Bild: Christine küsste den Jungen mit der Irokesenfrisur, während ein großes Fragezeichen über den Köpfen der beiden aufleuchtete.
Das allerletzte Bild jedoch stellte wiederum Christine und den Jungen mit den Initialen »UZ« dar: Offensichtlich floh sie vor ihm, die Hände abwehrend ausgestreckt, während er sie mit verdrehten Augen und grotesk heraushängender Zunge verfolgte. Das Bild hätte komisch gewirkt, wäre nicht der Gesichtsausdruck beider Figuren von erschreckender Eindringlichkeit gewesen. Christinewirkte abweisend und verwirrt, der Junge dagegen fanatisch wie ein Verrückter.
Lea schlug das letzte Blatt um. Seine Rückseite war leer. Auf der Innenseite des Einbands jedoch fand sich eine hastige Notiz in zittriger Schrift:
ProSanita
Dammtorstraße
Es dauerte lange, bis Lea sich imstande fühlte, das Buch wegzulegen und ihre Gedanken zu ordnen.
ProSanita
–
das ist eine bekannte Drogenberatungsstelle in Hamburg, die stationäre Entzüge durchführt. Kein Zweifel: Christine war kokainabhängig. Das war auch der Grund, warum sie immer wieder von zu Hause ausriss und wochenlang in der Schule fehlte. Sie trampte oder fuhr mit dem Zug nach Hamburg, um sich Stoff zu beschaffen – und um mit Menschen zusammen zu sein, die ihre Probleme verstanden. Man sagt zwar, ein Drogenabhängiger habe keine Freunde, doch scheint es, dass sie in Hamburg auf gleichgesinnte Jugendliche getroffen ist und sich sogar verliebt hat. Sie wollte fort aus Verchow, und die Gothic-Scene in Hamburg war ihr Asyl, zumindest eine Zeitlang. Schließlich jedoch notierte sie sich die Adresse einer Drogenberatungsstelle. Ob sie einen Entzug durchgestanden hat? War das der Grund, warum sie an jenem Tag im Mai ihre Eltern anrief und ankündigte, sie wolle nach Hause zurückkehren?
Lea schob die Puzzleteile in Gedanken hin und her, war sich am Ende jedoch sicher, dass ihre Rekonstruktion zutraf. Offen blieb nur die Frage, was Christine zugestoßen war und was die Versöhnung mit ihren Eltern vereitelt hatte. Sie war mit dem Bus in Verchow angekommen. Ihre Freunde aus der Drogenszene konnten alsonichts mit ihrem Verschwinden zu tun haben. Womöglich hatte sie sich zuvor bereits von ihnen getrennt, um den Entzug antreten zu können.
Aber was ist mit dem Jungen aus Verchow? Was ist mit U. Z.?
Lea war instinktivsicher, dass er auf irgendeine Weise in die Angelegenheit verwickelt war. Er hatte Christine ständig belauert, offenbar bereits vor ihren Ausflügen nach Hamburg, und auf dem letzten Bild floh sie sogar vor ihm. Wusste er, was sie in Hamburg tat? Wusste er, dass sie Drogen nahm – und vielleicht sogar, dass sie sich dort verliebt hatte? Gab es womöglich ein denkbar schlichtes Motivfür Christines Ermordung: Eifersucht?
Lea hatte völlig die Zeit vergessen, sodass sie erschrocken hochfuhr, als jemand an
Weitere Kostenlose Bücher