Das weiße Mädchen
Zärtlichkeiten trugen zu ihrer Entspannung bei. Später saßen beide bei einem rasch improvisierten Frühstück im Wohnzimmer, während von draußen Licht und Wärme der steigenden Sonne hereindrangen. In einiger Entfernung, irgendwo im hinteren Teil des Gartens, war das Klappern einer Heckenschere zu hören.
»Ist dein Onkel schon so früh im Garten zugange?«, fragte Lea zwischen zwei Schlucken Kaffee.
Kai zuckte die Achseln. »Wir sind beide früh aufgestanden. Genau wie ich konnte er es nicht erwarten, sich um das zu kümmern, was ihm am liebsten ist – in seinem Fall waren es die Rosen.«
»Ich hoffe nur, er hat nichts mitbekommen.«
Kai grinste. »Ich fürchte, du warst nicht zu überhören.«
Lea verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. »Sieh mal an! Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so selbstgefällig sein kannst«, entgegnete sie mit Würde.
»Nicht doch! Ich bin die Bescheidenheit in Person«, scherzte Kai demütig. »Und was meinen Onkel betrifft, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er mag dich – auch wenn er nichts von deinen Recherchen hält und meint, du solltest die Sache aufgeben. Übrigens hat er mir erzählt, dass er heute Nacht aufgewacht ist, weil er Schritte im Garten hörte. Warst du das?«
Im Bruchteil einer Sekunde sondierte Lea ihre Möglichkeiten und beschloss, dass es klüger war, ihn nicht zu beunruhigen.
»Ja, das war ich«, antwortete sie in gleichgültigem Ton. »Ich habe dir ja erzählt, dass ich nicht schlafen konnte. Da bin ich noch ein wenig im Garten gewesen.«
In diesem Moment näherte sich eine Gestalt der Balkontür. Lea erkannte Rudolf Zirner, in einer Hand die Heckenschere. Kai erhob sich sofort und öffnete die Tür.
»Guten Morgen!«, grüßte Zirner in Leas Richtung. »Entschuldigen Sie, aber ich muss Ihnen meinen Neffen für fünf Minuten entführen.«
»Kein Problem!«, sagte Lea.
»Könntest du mir mit dem Holunderbusch helfen?«, wandte sich der Mann an Kai. »Er ist völlig abgestorben und muss dringend aus der Erde, sonst nimmt er den Rosen das Licht. Ich glaube, allein schaffe ich das nicht mehr …«
»Bin schon da«, sagte Kai, schlüpfte in seine Schuhe und warf Lea einen »Dauert-nicht-lange!«-Blick zu, während er seinem Onkel in den Garten folgte. Lächelnd blickte Lea den beiden nach und leerte ihren Kaffee.
Ob er als Ehemann auch so hilfsbereit wäre?
, fragte sie sich – und schalt sich sofort wegen dieser hausmütterlichen Entgleisung ihrer Gedanken. Kai war ihr Liebhaber und bislang nicht mehr als eine Urlaubsbekanntschaft, etwas anderes stand nicht zur Debatte. Dennoch ertappte sie sich zunehmend häufiger bei dem Gedanken, wie es wäre, mit ihm zusammenzuleben. Ob er ihre Beziehung überhaupt als etwas Ernstes ansah? Es fiel ihr schwer, dies einzuschätzen, da sie ihn im Grunde kaum kannte – weit weniger gut zum Beispiel als Jörg Hausmann.
Jörg … Hatte er nicht am Morgen angedeutet, dass er sich ernste Sorgen um sie machte? Hatte er nicht gesagt,er würde es sich nie verzeihen, wenn ihr etwas zustieße? Dabei hatte seine Stimme eigentümlich befangen geklungen.
Ob er etwas für mich empfindet?,
fragte sich Lea. Der Gedanke war schmeichelhaft, rief jedoch zugleich einen Anflug von schlechtem Gewissen hervor.
»Du hast übrigens eine E-Mail von deinem Sohn«,
erinnerte sie sich plötzlich an seine Worte. Richtig – das hatte sie vollkommen vergessen. Lea beugte sich über den Tisch, zog ihren Laptop heran und rief das Postfach auf. Tatsächlich fand sie eine Mail vor, die Jörg ungeöffnet an sie weitergeleitet hatte. Seltsamerweise war es nicht Davids übliche Adresse. Der Absender lautete zwar »David Petersen«, doch Lea wusste, dass seine Mailadresse bei einem anderen Provider geführt wurde. Stirnrunzelnd öffnete sie die Nachricht – und erstarrte, als sie den einzigen Satz las, aus dem sie bestand.
PASSEN SIE LIEBER GUT AUF IHREN SOHN AUF
Augenblicklich fing Leas Herz an zu rasen. Entsetzt schnappte sie nach Luft.
Oh nein …, bitte nicht …, bitte nicht …
Einen Moment saß sie wie erstarrt da, dann sprang sie auf und griff nach ihrem Handy, wobei sie die leere Kaffeekanne umwarf. Mit zittrigen Fingern klickte sie auf Davids Nummer und drückte das Telefon so fest ans Ohr, dass das sterile Fiepen des Freizeichens ihr durch Mark und Bein schnitt.
Geh ran!,
flehte sie.
Bitte geh ran!
»Hallo?«
Das war nicht Davids Stimme. Niemals meldete er sich nur mit »hallo«.
»Wer ist
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