Das weiße Mädchen
früh werde ich meine Sachen packen.«
»Wie du meinst.«
»Versprichst du mir etwas? Auch wenn du es vielleicht für albern hältst?«
»Ich soll um acht zu Hause sein, zu niemandem ins Auto steigen und keine Bonbons von Fremden annehmen?«, scherzte David.
»Im Ernst, David!«, bat Lea. »Ich möchte, dass du vorläufig nicht allein weggehst.«
»Tu ich sowieso nicht. Ich würde die Tage am liebsten auf meinem Zimmer verbringen, wenn die Lehrer uns nicht ständig zu irgendwelchen Wanderungen scheuchen würden.«
»Aber wenn ihr einen Ausflug macht …«
»Dann zählen sie sowieso alle halbe Stunde ihre Schäfchen. Keine Sorge, Mum, ich gehe schon nicht verloren! Das Problem ist eher, überhaupt mal zehn Minuten unbeaufsichtigt zu bleiben. Es war schon schwierig genug, mich mit Maja zu treffen.«
»Triffst du sie wieder?«
»Ich glaube schon.«
»Aber ihr geht nicht wieder in den Wald, oder?«
David seufzte genervt. »Also gut, wenn du Angst hast, dass der große böse Wolf kommt, mache ich einen Bogen um den Wald.«
»Gut. Und bis dahin …«
»… passe ich auf mich auf, ja.«
»David?«
»Was ist denn noch?«
»Ich liebe dich.«
Das hatte sie so noch nie gesagt, und sie begriff schon im nächsten Moment, dass sie ihn in Verlegenheit brachte. David schwieg – wie so oft, wenn Gefühle zur Sprache kamen.
»Ja, dann …«, begann Lea, um die peinliche Stille zu überbrücken.
»Ich dich auch, Mum«, erwiderte David unerwartet. »Mach’s gut.«
Als Lea ins Wohnzimmer zurückkehrte, blickte Kai sie fragend an. »Und? Alles in Ordnung?«
Lea ließ sich neben ihn auf das Sofa sinken.
» Nichts
ist in Ordnung. Die Sache wächst mir über den Kopf … ich muss abreisen.«
»Abreisen?«
»Gleich morgen.«
»Aber deinem Sohn geht es gut?«
»Ja. Trotzdem nehme ich diese Drohung ernst.«
»Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du mich einweihst«, meinte Kai. »Bisher hast du mir so gut wie nichts über deine Recherchen erzählt. Du glaubst also, dass diese Drohung mit dem verschwundenen Mädchen zu tun hat?«
Lea nickte.
»Aber wie kommst du darauf?«, wollte Kai wissen. »Gibt es irgendeinen konkreten Anhaltspunkt? Komm schon, Lea – wenn du mir vertraust, solltest du mir die ganze Geschichte erzählen! Vielleicht kann ich dir helfen.«
Lea seufzte. Eigentlich gefiel ihr der Gedanke nicht, ausgerechnet Kai einzuweihen. Andererseits brauchte sie im Augenblick dringend Hilfe.
»Also gut«, begann sie. »Ich glaube zu wissen, wer Christine Herforth getötet hat. Erinnerst du dich an die Erscheinung an der Landstraße? Ich habe Grund zu der Annahme, dass diese falsche Christine von einem Mann dargestellt wird, der seit Jahren das ehemalige Haus der Herforths bewohnt.«
»Ich dachte, das Haus steht leer.«
»Dachte ich auch, aber ich war dort und traf den Kerl im Hof an. Er trägt Frauenkleidung und gibt sich als Putzfrau aus. Außerdem gibt er vor, taubstumm zu sein, indem er einen handgeschriebenen Zettel vorzeigt, wenn man ihn anspricht.«
»Bist du sicher, dass es ein Mann ist?«
»Ja. Aus der Nähe ist seine Tarnung nicht besonders gut.«
»Und woher willst du wissen, dass es dieser Kerl ist, der sich nachts an die Straße stellt? Warum sollte er das tun, wenn er etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun haben?«
»Es ist kompliziert«, gab Lea zu. »Aber ich habe Informationen …«
»Dann lass mich daran teilhaben!«, forderte Kai sie abermals auf.
»Na schön.« Lea stand auf, holte ihre Handtasche und zog das Tagebuch heraus. »Das hier gehörte Christine Herforth.«
Stirnrunzelnd nahm Kai das Buch entgegen und blätterte es durch. »Woher hast du das?«
Lea winkte ab. »Reden wir nicht darüber.«
»Doch, reden wir darüber!«, verlangte Kai. »Wie bist du an dieses Buch gekommen?«
»Ich habe es aus dem Herforth-Haus.«
»Wie das?«
»Ein Fenster stand offen.«
»Soll das heißen, dass du dort
eingestiegen
bist?«
Lea nickte.
»Na, du machst vielleicht Sachen …« Kai schüttelte ungläubig den Kopf. »Gehört so etwas zur journalistischen Praxis? Was ist, wenn der Kerl dich anzeigt?«
»Wird er nicht«, sagte Lea. »Er hat gute Gründe, sich nicht die Polizei ins Haus zu holen.«
Kai hatte inzwischen bis zu jener Stelle geblättert, wo Lea das schwarze Haar zwischen die Seiten gelegt hatte. Er ergriff es mit spitzen Fingern und hielt es hoch. »Hast du das auch aus dem Haus?«
Lea nickte – es war einfacher, nicht auf die Gegenvisitedes
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