Das weiße Mädchen
da?«, fragte Lea zittrig.
»Justin Schumacher.«
»Justin? Hier ist Lea – Davids Mutter.«
»Oh, hallo! Wie geht es Ihnen?«
»Wo ist David? Warum gehst du an sein Handy?«
»Er …« Davids Schulfreund und Zimmergenosse räusperte sich verlegen. »… ist nicht da.«
»Das habe ich auch begriffen!«, fuhr Lea ungehalten auf. Im Augenblick hatte sie weder Zeit noch Kraft für Höflichkeiten. »Justin, wo
ist
er?«
»Das weiß ich nicht genau.«
»Wie lange ist er schon weg?«
»Eine ganze Weile«, sagte Justin unbestimmt. »Gibt es ein Problem, Frau Petersen?«
»Ja, es gibt allerdings ein Problem.« Lea hatte Mühe, ihre Stimme zu kontrollieren. »Justin, bitte hilf mir! Wann genau ist er weggegangen, und warum?«
»Er sagte, er wollte nach dem Frühstück ein wenig nach draußen.«
»Wann war das?«
»Gegen acht.«
Leas Blick flog zur Uhr über dem Küchentresen: halb elf.
»Und du weißt nicht, wohin er gegangen ist?«
»Wahrscheinlich in den Wald hinter dem Schullandheim«, meinte Justin, der offenbar endlich bemerkte, dass Lea sich Sorgen machte. »Ist es dringend? Soll ich ihn suchen gehen?«
»Ja, bitte tu das! Sag ihm, er soll mich sofort anrufen – und wenn du ihn nicht finden kannst, ruf bitte selbst an!«
Sie gab ihre Nummer durch und beendete das Gespräch mit einem unguten Gefühl.
Keine Panik!,
zwang sie sich selbst zur Ruhe.
Er macht nur einen Spaziergang im Wald.
Er geht nie in irgendeinen Wald!,
fuhr die andere Stimme dazwischen.
Wenn er allein sein will, sitzt er entweder am Computer oder liegt im Bett.
»Hey, was ist denn los?« Lea erschrak, als sie Kais Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie hatte ihn gar nicht wieder hereinkommen hören. »Du atmest so schnell. Geht es dir nicht gut?«
Lea, momentan außerstande zu antworten, ergriff haltsuchend seine Hand und drückte sie. Kai sah sie erstaunt von der Seite an. Dann fiel sein Blick auf den Computerbildschirm mit der geöffneten Mail.
»Was soll das denn bedeuten? Ist das ein schlechter Scherz?«
»Kein Scherz«, stieß Lea hervor. »Eine Drohung. Offenbar bin ich bei meinen Recherchen zu weit vorgedrungen.«
Kai runzelte die Stirn. »Du glaubst, das hat etwas mit deinen Nachforschungen über dieses verschwundene Mädchen zu tun?«
»Ohne Zweifel«, sagte Lea überzeugt. Sie ahnte, dass Kai ihr nicht glaubte, und erwog für Sekunden, ihm von dem nächtlichen Einbruch zu erzählen. Dem kam er jedoch zuvor, indem er einen Stuhl heranzog, sich neben sie setzte und ihr ernst ins Gesicht blickte. »Hast du versucht, deinen Sohn zu erreichen?«
»Ja, gerade eben. Du weißt ja: Er ist zurzeit auf Klassenfahrt. Sein Mitbewohner sagt, er sei seit acht Uhr verschwunden, angeblich, um im Wald spazieren zu gehen.«
»Dann wird es sicher auch so sein«, versuchte Kai sie zu beruhigen. »Atme erst mal durch! Ich glaube nicht, dass jemand deinem Sohn etwas antun würde, nur weil du hier im Dorf ein paar Leute ausgefragt hast. Es weiß doch niemand außer mir, dass du überhaupt einen Sohn hast.«
»Hast du es irgendjemandem erzählt?«
»Nein – wem denn? Ich kenne die Leute hier nur vom Sehen.«
»Und dein Onkel? Vielleicht hat er es jemandem gesagt.«
»Lea, beruhige dich! Alles wird gut. Sicher ruft dein Sohn in einer halben Stunde zurück, und du kannst die Sache vergessen.«
» Das
vergesse ich bestimmt nicht!« Lea wies auf den Bildschirm. »Selbst wenn alles in Ordnung ist, kann ich es nicht riskieren, länger hierzubleiben – nicht, wenn mein Kind bedroht wird.«
Jörg Hausmann hatte recht: Offenbar hatte Lea sich zu weit vorgewagt. Sie war Christines Mörder auf der Spur und hatte leichtsinnigerweise seine Aufmerksamkeit erregt. Nun musste sie für ihr Gastspiel als Hobby-Detektivin büßen.
Ich muss heute noch abreisen,
dachte sie verzweifelt,
und am besten im ganzen Dorf verbreiten, dass ich mich nicht mehr mit der Angelegenheit beschäftige …
Sie erschrak heftig, als das Telefon in ihrer Hand vibrierte, und riss es ans Ohr.
»David?«
»Mum? Ist alles in Ordnung?«
Vor Erleichterung wurde Lea fast schwindelig, und sie atmete tief aus, während sie einen Blick mit Kai tauschte.
»David! Wo bist du gewesen?« Sie bemerkte, dass ihr die Tränen kamen, rang einen Moment um Fassung und stand schließlich auf, um mit dem Telefon im Schlafzimmer zu verschwinden und die Tür hinter sich zu schließen.
»Ist das wichtig?«, fragte David ungewöhnlich reserviert.
»Ja, verdammt noch mal,
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