Das weiße Mädchen
nicht tot, indem er zeitweise ihre Gestalt annimmt.«
»So krank kann doch kein Mensch sein«, wehrte Kai ungläubig ab.
»Er war in der Psychiatrie«, erinnerte ihn Lea, »wo möglich in einer geschlossenen Abteilung. Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken eines solchen Menschen nachvollziehen können.«
»Wenn er so schwer gestört ist, wie ist er dann zu dem Hof gekommen? So eine Immobilie kostet locker eine halbe Million. Ist er plötzlich Vorstand der Deutschen Bank geworden, oder hat er im Lotto gewonnen?«
»Keine Ahnung«, gab Lea zu. »Vielleicht ist er gar nicht der Besitzer des Hofs, sondern hat sich nur auf irgendeine Weise die Stelle des Hausmeisters erschlichen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er mit größter Wahrscheinlichkeit dein verschollener Cousin ist …«, sie seufzte, »… und dass es zwecklos wäre, ihn aufzusuchen.«
»Warum?«
»Er gibt vor, taubstumm zu sein. Du wirst ihm also keine Fragen stellen können.«
»Dann möchte ich ihn zumindest sehen!«, entschied Kai und zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich muss wissen, ob er es ist – schon um Rudis willen. Vor wenigen Wochen musste ich sein Testament aufsetzen, und Rudi selbst hat mir versichert, dass der Junge spurlos verschwunden ist und als Erbe nicht infrage kommt. Wenn er jetzt tatsächlich unter falschem Namen in der Nachbarschaft lebt, dürfte seine Familie ein Recht haben, den Grund dafür zu erfahren.«
»Ich weiß nicht, ob wir das tun sollten«, sagte Lea, ein wenig erschrocken angesichts seiner Entschlossenheit. »Ich glaube, dieser Mann ist gefährlich.«
»Wenn es dir lieber ist, fahre ich allein.«
»Nein! Ich komme mit.«
»Gut. Dann lasse ich mir schnell eine Ausrede für Rudi einfallen. Am besten sage ich ihm, dass wir einen Ausflug machen.«
Keine halbe Stunde später fuhren beide in Kais Wagen den Zufahrtsweg zum Anwesen der Herforths entlang. Lea betrachtete den verlassenen Hof, die Scheune und die düstere Front des Hauptgebäudes mit einem unguten Gefühl. Ihr war nicht besonders wohl dabei, an diesen Ort zurückzukehren, zumal sie wusste, dass der Mann, der sich hier versteckt hielt, in der Nacht zuvor in ihr Schlafzimmer eingestiegen war. Kais Anwesenheit jedoch gab ihr Sicherheit.
»Dann wollen wir mal«, sagte er, als sie ausgestiegen waren und vor dem eisernen Tor standen. Prüfend drückte er gegen einen der Torflügel, der mit einem leichten Quietschen nach innen schwang. »Nicht abgeschlossen. Betrachten wir das als Einladung!«
Sie traten in den Hof und gingen auf die Treppe zu, die zum Gutshaus hinaufführte. Lea blickte sich aufmerksamum, konnte jedoch nirgends ein Anzeichen entdecken, dass der Besitzer zu Hause war. Lediglich zwei Katzen sprangen hinter der Scheune hervor, als sie vorbeigingen, und flüchteten ins Gebüsch nahe des Zauns.
»Hier gibt es Katzen?« Kai runzelte die Stirn.
»Ich glaube, es sind Nachkommen der Herforthschen Katzenzucht«, sagte Lea. »Sie kommen immer noch hierher. Der Bewohner des Hauses kümmert sich um sie. Bei meinem letzten Besuch habe ich einen Napf mit Katzenfutter gesehen.«
Inzwischen standen sie vor der Haustür, und Kai blickte sich suchend nach einer Klingel um.
»Es gibt keine Klingel«, sagte Lea.
»Na schön.« Kai klopfte, erst in gemessener Lautstärke, dann, als nichts sich regte, länger und energischer.
»Hallo?«, rief er zu den Fenstern im ersten Stock hinauf.
»Alle Gardinen sind zugezogen«, bemerkte Lea. »Gut möglich, dass er da oben sitzt und uns beobachtet.« Sie schauderte ein wenig bei diesem Gedanken.
»Und du bist sicher, dass er
nicht
taubstumm ist?«
»Absolut«, versicherte Lea. »Das ist nur eine Tarnung. Er drehte sich zu mir um, als ich versehentlich ein Geräusch machte. Außerdem war dein Cousin doch nicht taub, oder? Das hätte dein Onkel bestimmt erwähnt.«
»Wir wissen nicht, ob es sich um Uwe handelt«, hielt Kai ihr vor. »Bislang ist das nur eine deiner Intuitionen.« Er klopfte abermals. »Hallo? Wenn Sie da sind, machen Sie bitte auf!«
Sie warteten weitere zwei Minuten, bis Kai sich schließlich abwandte. »Das ist zwecklos. Hier ist niemand. Vielleicht ist der Kerl, den du gesehen hast, wirklich eine Art Hausmeister und kommt nur einmal die Woche, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Und warum verkleidet er sich dann als Frau?«
»Tja – es gibt viele Spinner auf der Welt«, meinte Kai, während sie den Rückweg antraten. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er
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