Das weiße Mädchen
unbehaglich. »Rudi ist sehr penibel mit seinen Unterlagen.«
»Warum hat er sie überhaupt im Haus?«
»Tja … das war wohl seine Art von Pflichtbewusstsein. Er hat schon immer viel Arbeit mit nach Hause genommen und Kopien seiner sämtlichen Akten angelegt, um nach Feierabend daran weiterarbeiten zu können. Ich habe ihn einmal gefragt, warum er den ganzen Kram nicht wegwirft. Schließlich ist er seit Jahren pensioniert …, aber er ist sehr ordnungsliebend und bewahrt alles auf.«
»Dann hat er sicher auch etwas von seinem Sohn aufbewahrt«,vermutete Lea, schob den Ordner an seinen Platz zurück und blickte sich im Zimmer um. Ihr Blick wanderte zur Decke. »Gibt es hier einen Dachboden?«
»Ja. Aber dort stehen nur einige ausgediente Gartengeräte und Möbel aus der ehemaligen Küche – keine Kartons, keine Papiere, nichts Eingepacktes oder Verschlossenes. Ich war schon mehrmals dort oben und kann dir versichern, dass ein Besuch sich nicht lohnt.«
»Also gibt es nichts, was Uwe hinterlassen hätte?«
Kai zuckte die Achseln. »Rudi redet ja nicht darüber – aber ich nehme an, dass er alles, was ihn an Uwe erinnern könnte, schon lange aus dem Haus geschafft hat. Die ganze Geschichte war einfach zu schmerzlich für ihn.«
»Auch der Tod seiner Frau war zweifellos schmerzlich – aber für sie hat er eine Gedenkplatte im Garten, und sicher hat er Erinnerungsstücke von ihr aufgehoben. Warum also verleugnet er seinen Sohn?«
Kai antwortete nicht. Den Blick noch immer nach oben gerichtet, folgte Lea dem Verlauf eines Fachwerkbalkens, der die Decke des Zimmers teilte. Er stieß im rechten Winkel auf einen zweiten senkrechten Balken hinter dem Bett. Das Holz war uralt, beinahe schwarz und an einigen Stellen splittrig.
»Na? Ist wieder deine Intuition am Werk?«, fragte Kai und konnte einen leicht ironischen Ton nicht vermeiden.
»Ich glaube schon«, sagte Lea ernst, während sie einen der Bettpfosten ergriff, um das Gestell von der Wand abzurücken. Was sie suchte, war ihr selbst nicht klar – ein Versteck vielleicht, ein loses Dielenbrett oder den Eingang zu einer Abseite unter der Dachschräge. Doch unter dem Bett fand sich nichts als sauberer Parkettboden mit durchgehenden Fußleisten an den Wänden.
»Lea, bitte!«, drängte Kai. »Rudi wird bald heraufkommen.«
Lea erwog bereits, aufzugeben und seinem Wunsch zu folgen, als ihr Blick auf den unteren Teil des Fachwerkbalkens fiel, der hinter dem Bett verborgen gewesen war.
»Du wolltest Beweise?«, fragte sie aufgeregt. »Dann komm her und sieh dir das an!«
Sie wies auf eine Stelle im Holz, die mit einem scharfen Messer bearbeitet worden war. Jemand hatte Buchstaben in die Oberfläche des Balkens gekratzt, grob und linkisch, doch deutlich lesbar:
CHRISTINE
Darunter fand sich ein keilförmiges Zeichen, das auf den ersten Blick wie eine Bruchstelle im Holz wirkte, aber mit etwas Fantasie als stilisiertes Herz durchging.
»Na? Was sagst du nun?«, fragte Lea. »Er hat sie gekannt.«
Kai starrte auf das Graffiti.
»Ich gebe zu«, sagte er schließlich, »dass du wahrscheinlich recht hast.«
»Ich bin sicher«, erwiderte Lea beharrlich. »Er kannte Christine nicht nur, er war besessen von ihr – und angesichts seiner labilen Psyche wäre es nicht erstaunlich, wenn diese Besessenheit verhängnisvolle Auswüchse angenommen hätte.«
»Aber wo ist die Verbindung zu diesem Mann, der das Haus der Herforths bewohnt?«
»Überleg doch, Kai: Warum sollte er sich sonst mit solchem Aufwand tarnen? Offenbar hat er ein Interesse daran, dass seine Identität nicht bekannt wird. Nach außen hin erweckt er den Eindruck, der Hof sei unbewohnt. In Wahrheit aber – dessen bin ich sicher – versteckt er sich tagsüber im oberen Stockwerk des Gutshauses.«
Kai, der ihre Vermutung endlich ernsthaft zu erwägen schien, schritt nachdenklich im Zimmer auf und ab.
»Also gut«, sagte er nach einer Weile. »Wir sollten es überprüfen. Falls du recht hast und dieser Mann wirklich Rudis Sohn ist, möchte ich wissen, was er sich bei diesem Versteckspiel denkt. Warum sollte er nach Verchow zurückgekehrt sein?«
»Ganz einfach: Er hat Christine niemals vergessen und wollte ihr nahe sein – was hätte er Näherliegendes tun können, als das Haus zu beziehen, in dem sie lebte?«
»Ich dachte, du hältst ihn für Christines Mörder?«
»Das eine schließt das andere ja nicht aus«, sinnierte Lea düster. »Offenbar macht er sich vor, Christine sei gar
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