Das Weltgeheimnis (German Edition)
bringt. Der fromme Kepler bleibt bei seinen eigenen Ausdeutungen, auch wenn sie nicht in der Institution Kirche aufgehen. Er ist ein Nonkonformist, ein unbequemer Geist in protestantischer Tradition.
Man wird ihn dafür anklagen, teils calvinistisch, teils katholisch zu denken, ihn dazu drängen, die lutherische Konkordienformel zu unterschreiben oder, von der anderen Seite, zum Katholizismus überzutreten. Im Laufe seines Lebens wird er vertrieben, exkommuniziert, verliert seine Chancen auf eine adäquate Anstellung als Forscher an einer Universität. Sein großer Wunsch, nach langer Zeit in der Fremde in seine württembergische Heimat zurückzukehren, wird immer wieder zunichtegemacht. Anders als Galilei, der in die elitären Kreise von Florenz hineinwächst und rasch eine Stelle an einer Universität bekommt, bleibt Kepler sein Leben lang ein Außenseiter. Er ist an keinem Ort und in keiner Gemeinschaft wirklich zu Hause.
Abschiebung nach Graz
Als er kurz davor steht, in den Kirchendienst einzutreten, nimmt sein Leben eine unvorhergesehene Wendung. Noch ehe er die Ausbildung abgeschlossen hat, empfiehlt ihn der Senat der Tübinger Universität für einen gerade frei gewordenen, aber nicht eben angesehenen Posten an der evangelischen Stiftsschule in Graz. Der tüchtige, renitente Theologiestudent soll dort als Mathematiklehrer anfangen.
Während seines Studiums hat sich Kepler in Geometrie und Astronomie hervorgetan, hat die Mathematik Euklids schätzen gelernt und sogar schon eine Disputation zur Verteidigung der kopernikanischen Lehre geschrieben. Doch all das war für ihn lediglich Teil der Vorbereitung seiner theologischen Laufbahn. Es ist nie seine Absicht gewesen, den einmal eingeschlagenen Weg zum Priesteramt zu verlassen und Mathematiker zu werden.
Das Studium sei ihm durch die Gnade Gottes so lieb und teuer geworden, »dass ich, was immer dereinst mir geschehen mag, nicht daran denke, es je zu unterbrechen«, erklärt er gegenüber der theologischen Fakultät. Zwar widersetzt er sich einer Versetzung nach Graz nicht, erreicht aber zumindest, dass ihm die Möglichkeit einer späteren Rückkehr eingeräumt wird. Da sein Alter und seine äußere Erscheinung ohnehin noch nicht genug auf die Kanzel passten, wünsche er sich, in Graz Gelegenheit zu praktischer Übung im kirchlichen Dienst zu erlangen und sich privat durch das Studium der Heiligen Schrift weiterzubilden.
Ein frommer Wunsch. Kepler wird nie ein Pfarramt bekleiden. Er findet in Graz rasch in seine neue Rolle hinein und bewährt sich auf einem Gebiet, in dem er bislang kaum mehr als solide Grundkenntnisse, aber offenbar eine außergewöhnliche Begabung besitzt. »Ich wollte Theologe werden«, schreibt er ein paar Jahre später an den für seine weitere Karriere wichtigsten Universitätsprofessor der Tübinger Zeit, den Astronomen Michael Mästlin. »Lange war ich in Unruhe. Nun aber seht, wie Gott durch mein Bemühen auch in der Astronomie gefeiert wird.«
DIE GOLDWAAGE
Galilei auf den Spuren des Archimedes
Galilei und Kepler, der eine geprägt durch ein künstlerisches Umfeld in Florenz, der andere durch ein theologisches Studium in Württemberg, beginnen ihre berufliche Laufbahn beide als Mathematiklehrer. Wer eine solche Wahl trifft, muss damit rechnen, nur von wenigen verstanden zu werden. Denn für die mathematische Bildung im 16. Jahrhundert gilt wohl in noch schärferer Form das, was der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger über die heutige Zeit sagt: dass es kein zweites Gebiet gebe, auf dem der kulturelle »time lag« derart enorm sei. »Man kann kaltblütig feststellen, dass große Teile der Bevölkerung … über den Stand der griechischen Mathematik nie hinausgekommen sind.«
Die allerdings war nicht eben unterentwickelt. Galilei und Kepler, beide nicht ausreichend auf ihre künftige Tätigkeit vorbereitet, wenden sich erst einmal den Genies der Vergangenheit zu: Euklid, Archimedes und Apollonius.
Archimedes gilt an der Schwelle zur Neuzeit als der scharfsinnigste Mathematiker aller Zeiten. Man kennt ihn als Erfinder von Planetarien und Hebemaschinen, mit seinen Seilzügen soll er den Stapellauf des größten Schiffes der Antike, des mindestens 3000 Tonnen fassenden Prunkschiffs »Syrakosia«, ganz allein gemeistert haben. Nur mit der Kraft seiner Gedanken habe er den Frachter in Bewegung versetzt – eine Aufgabe, an der zuvor einige hundert Männer gescheitert waren.
Solche Erzählungen gewinnen noch an Reiz, wenn man
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