Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
George. »Wissen Sie, Alma, es gab Zeiten, da habe ich mir gewünscht, Retta möge im Tod Erleichterung finden, anstatt diese fortwährenden Qualen zu erdulden und mir und anderen aufzuerlegen.«
Alma fühlte sich außerstande, darauf zu antworten. George sah sie unverwandt an, das Gesicht finster und schmerzverzerrt. Nach einiger Zeit brachte sie zögernd folgende Worte heraus: »Wo Leben ist, George, da gibt es noch Hoffnung. Der Tod ist so erschreckend endgültig. Er holt uns früh genug. Ich hätte Bedenken, jemandem zu wünschen, der Tod möge ihn vorzeitig ereilen.«
George schloss die Augen und schwieg. Er schien die Antwort nicht als tröstlich zu empfinden.
»Ich werde es mir zur Gewohnheit machen, Retta einmal im Monat in Trenton zu besuchen«, sagte Alma, um einen leichtherzigeren Ton bemüht. »Wenn Sie es wünschen, dürfen Sie mich gern begleiten. Ich werde Retta die neuesten Ausgaben von Joy’s Lady’s Book mitbringen. Darüber wird sie sich freuen.«
In den nächsten zwei Stunden blieb George stumm. Eine Zeitlang schien es, als dämmerte er vor sich hin. Doch als sie sich Philadelphia näherten, schlug er die Augen auf und starrte schweigend ins Leere. Noch nie hatte Alma einen Menschen so unglücklich gesehen. Aus Mitleid beschloss sie, das Thema zu wechseln. Einige Wochen zuvor hatte George ihr ein neues, unlängst in London veröffentlichtes Buch über Molche geliehen. Vielleicht würde dessen Erwähnung seine Stimmung heben. Sie dankte ihm also für die Leihgabe, äußerte sich, während die Kutsche langsam auf die Stadt zufuhr, über einige Details des Textes und kam schließlich zu dem Schluss: »Alles in allem kann ich sagen, dass dieses Buch über ein ganz beachtliches Gedankengut und eine präzise Analytik verfügt, obwohl es abscheulich geschrieben und verheerend gestaltet ist. Und deshalb möchte ich Sie auch fragen, George: Gibt es in England eigentlich keine fähigen Verleger?«
George blickte unvermittelt von seinen Füßen auf und sagte: »Der Gatte Ihrer Schwester hat sich in letzter Zeit einige Unannehmlichkeiten zugezogen.«
Offenbar hatte er nicht ein Wort von Almas Ausführungen gehört. Der Themenwechsel überraschte Alma. George war kein Klatschmaul, und es befremdete sie, dass er überhaupt von Prudence’ Ehemann sprach. Vielleicht hatten ihn die Ereignisse des Tages so aufgewühlt, dass er nicht mehr Herr seiner selbst war. Um jedes Unbehagen zu vermeiden, nahm sie dennoch den Gesprächsfaden auf, als hätten sie sich von jeher über solche Dinge ausgetauscht.
»Was hat er denn getan?«, fragte sie.
»Arthur Dixon hat ein leichtsinniges Pamphlet veröffentlicht«, erklärte George müde. »Zudem war er so töricht, es unter seinem richtigen Namen in Umlauf zu bringen. Er vertritt darin die Meinung, dass sich die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund ihrer fortwährenden Beteiligung an der Versklavung von Menschen eines moralischen Vergehens schuldig macht.«
Diese Neuigkeit war alles andere als schockierend. Prudence und Arthur Dixon waren seit vielen Jahren engagierte Abolitionisten. Ihre Ablehnung der Sklaverei, die durchaus eine radikale Tendenz hatte, war in ganz Philadelphia wohlbekannt. In ihrer knapp bemessenen freien Zeit brachte Prudence in einer ortsnahen Quäkerschule freien Schwarzen das Lesen bei. Zudem kümmerte sie sich um die Insassen des Heims für farbige Waisen und hielt des Öfteren Vorträge bei Versammlungen von Frauenvereinen, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten. Arthur Dixon veröffentlichte häufig, um nicht zu sagen unablässig Pamphlete und gehörte zwischenzeitlich dem Redaktionsgremium der Wochenzeitschrift The Liberator an. Wenn man ehrlich war, hatten viele Leute in Philadelphia inzwischen genug von diesen Dixons mit ihren Pamphleten, Artikeln und Vorträgen. (»Für einen Mann, der sich einbildet, ein Aufwiegler zu sein«, hörte man Henry ein ums andere Mal sagen, »ist Arthur Dixon ein entsetzlicher Langweiler.«)
»Na und?«, entfuhr es Alma. »Wir wissen alle, dass meine Schwester und ihr Mann für solche Dinge eintreten.«
»Diesmal ist Professor Dixon noch einen Schritt weiter gegangen, Alma. Er verlangt nicht nur die sofortige Abschaffung der Sklaverei, sondern vertritt zudem die Meinung, dass wir als Bürger weder Steuern zahlen noch das amerikanische Gesetz achten sollten, bis die Erfüllung seiner Forderungen, so unwahrscheinlich dies auch sein mag, eingetreten ist. Er will uns dazu
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