Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
bezeichneten, doch Alma sah darin nichts weiter als ein Amüsement, noch dazu eine nicht eben ungefährliche Form des Amüsements.
In gewisser Weise ähnelte Ambrose – der feinnervige, sehnsuchtsvolle Ambrose – diesen Spiritualisten, wenn er sich auch in anderer Hinsicht gänzlich von ihnen unterschied. Zunächst einmal hatte er selbst noch nie von ihnen gehört. Er führte ein viel zu abgeschiedenes Leben, um von diesen mystischen Modeerscheinungen überhaupt Kenntnis zu nehmen. Er abonnierte keine Fachzeitschriften für Phrenologie, in denen die siebenunddreißig Fähigkeiten, Neigungen und Empfindungen, die sich an den Buckeln und Einkerbungen des menschlichen Schädels ablesen ließen, Diskussionsgegenstand waren. Auch ein Medium hatte er noch nie aufgesucht. Er zählte nicht zu den Lesern der transzendentalistischen Zeitschrift The Dial . Namen wie Bronson Alcott oder Ralph Waldo Emerson hatte er Alma gegenüber niemals erwähnt – ganz einfach deshalb, weil ihm diese Namen noch nie begegnet waren. Trost und Verbundenheit suchte er bei Autoren des Mittelalters, nicht bei denen der Gegenwart.
Darüber hinaus strebte er in gleicher Weise nach Nähe zum biblischen Gott wie zu den Geistern der Natur. Wenn er sonntags mit Alma die schwedisch-lutherischen Gottesdienste besuchte, kniete und betete er in demütigem Einvernehmen. Redlich saß er auf der harten Kirchbank aus Eichenholz und lauschte den Predigten ohne jedes Unbehagen. Wenn er nicht ins Gebet vertieft war, arbeitete er schweigend an seinen Druckerpressen, porträtierte fleißig Orchideen, half Alma bei ihren Moosen oder absolvierte lange Backgammon-Partien mit Henry. Ambrose hatte nicht die leiseste Ahnung, was in der übrigen Welt vor sich ging. Wenn überhaupt, so versuchte er, dieser Welt zu entfliehen – was Alma als Beweis dafür ansah, dass er sein wunderliches Ideenkonvolut aus eigener Kraft ersonnen hatte. Er wusste nicht, dass man derzeit in halb Amerika und in allen Teilen Europas versuchte, anderer Leute Gedanken zu lesen. Er wollte nur Almas Gedanken lesen und sie dazu bringen, die seinen zu lesen.
Das konnte sie ihm nicht verwehren.
Und so geschah es, dass sie den jungen Mann, als er sie bat, ihn an einen verborgenen, ruhigen Ort zu bringen, in die Bindekammer führte. Ein anderer Ort kam ihr nicht in den Sinn. Durchs halbe Haus zu marschieren, um eines der entfernteren Zimmer aufzusuchen, brachte die Gefahr mit sich, jemanden aufzuwecken. Außerdem wollte sie keinesfalls mit Ambrose in einem der Schlafzimmer angetroffen werden. Zudem war ihr kein ruhigerer, geheimerer Ort bekannt. Dies war Almas Liste von Gründen, ihn zur Bindekammer zu führen. Nicht auszuschließen, dass sie es tatsächlich aus diesen Gründen tat.
Er hatte nie bemerkt, dass sich dort eine Tür befand. Niemand wusste davon, so geschickt war der Türrahmen in die stuckverzierte Wand eingefügt. Seit Beatrix’ Tod war Alma der einzige Mensch, der die Bindekammer jemals betrat. Vielleicht wusste Hanneke von ihr, doch die alte Wirtschafterin kam nur selten in diesen entfernten Flügel des Hauses, in dem sich die Bibliothek befand. Henry wusste vermutlich ebenfalls davon – schließlich hatte er das Gebäude entworfen –, doch auch er begab sich nur noch selten in die Bibliothek. Wahrscheinlich hatte er die Existenz der Bindekammer schon vor Jahren vergessen.
Alma hatte keine Lampe mitgebracht. Die Umrisse des winzigen Kämmerchens waren ihr wohlvertraut. Es gab den Schemel, auf dem sie saß, wenn sie ihre schändlich-lustvollen Momente der Einsamkeit genoss, und es gab einen kleinen Arbeitstisch, auf dem nun Ambrose ihr gegenüber Platz nehmen konnte. Alma zeigte es ihm. Als sie die Tür geschlossen und verriegelt hatte, waren sie in völlige Dunkelheit getaucht, gemeinsam in dieser winzigen, verborgenen, stickigen Kammer. Weder die Dunkelheit noch die Enge schienen Ambrose zu ängstigen. Um nichts anderes hatte er schließlich gebeten.
»Darf ich Ihre Hände halten?«, fragte er.
Vorsichtig tastend streckte Alma beide Hände ins Dunkel, bis ihre Fingerspitzen seine Arme berührten. Gemeinsam fanden sie sich. Ambroses Hände waren schlank und leicht. Die ihren fühlten sich schwer an und feucht. Ambrose legte die Handrücken auf seine Knie, und sie ließ ihre Handflächen auf die seinen sinken. Was diese erste Berührung auslöste, hatte Alma unmöglich vorhersehen können: Wie aus dem Nichts brach ein tosender, gewaltiger Sturm der Liebe über sie herein. Er
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