Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
hielt Ausschau. Doch sie bekam nicht einen einzigen zu Gesicht, denn im Juni 1852 erreichten sie Tahiti. Die Besatzung wandte sich in die eine Richtung und Alma in die andere, und sie sollte nie wieder etwas von der Elliot hören.

Kapitel 22
    Der erste Blick auf Tahiti, wie er sich Alma vom Schiff aus bot, zeigte schroffe Berggipfel, die steil in einen wolkenlos blauen Himmel ragten. Sie war gerade aufgewacht an diesem schönen, klaren Morgen und an Deck gekommen, um die Welt in Augenschein zu nehmen. Was sie sah, hatte sie nicht erwartet. Der Anblick Tahitis raubte Alma den Atem: nicht, weil er so schön gewesen wäre, sondern weil er so fremd war. Zeit ihres Lebens hatte sie von dieser Insel erzählen hören, hatte Zeichnungen und Gemälde gesehen, doch sie war nicht auf den Gedanken gekommen, dass dieser Ort so hoch aufragend und so ungewöhnlich sein könnte. Diese Berge hatten nichts mit den sanften Hügeln Pennsylvanias gemein; es waren wilde, überwucherte Hänge, erschreckend steil, beängstigend schroff, schwindelerregend hoch und blendend grün. Die ganze Insel war über und über von Grün umhüllt. Bis an die Küste hinab war alles maßlos üppig und grün. Die Kokospalmen schienen direkt aus dem Meer heraus zu wachsen.
    Alma war wie vor den Kopf gestoßen. Da war sie nun, buchstäblich am anderen Ende der Welt – mitten zwischen Australien und Peru –, und konnte sich die Frage nicht verkneifen: Wieso gab es hier überhaupt eine Insel? Tahiti war wie eine geisterhafte Unterbrechung im gewaltigen, endlosen Einerlei des Pazifiks – eine ebenso unheimliche wie willkürliche Kathedrale, die sich ohne jeden Anlass mitten im Meer erhob. Alma hatte fest damit gerechnet, die Insel als eine Art Paradies zu empfinden, denn so war ihr Tahiti stets geschildert worden. Sie hatte damit gerechnet, von Schönheit überwältigt zu werden, sich zu fühlen, als legte sie im Garten Eden an. Hatte nicht Bougainville Tahiti La Nouvelle Cytherne genannt, nach Kythira, der Insel, an der die schaumgeborene Aphrodite an Land gestiegen sein sollte? Doch Almas erste Reaktion war schlicht und einfach Angst. An diesem strahlenden Morgen, inmitten des milden Klimas, empfand sie nichts als ein Gefühl der Bedrohung, als dieses sagenumwobene Utopia so plötzlich vor ihr auftauchte. Was mochte Ambrose wohl davon gehalten haben? Hier wollte sie keinesfalls allein zurückbleiben.
    Doch wo sollte sie sonst hin?
    Sanft glitt das alte Schlachtross von Schiff in den Hafen von Papeete, wo Dutzende unterschiedlichster Seevögel die Masten umschwirrten, so schnell, dass Alma sie kaum zu zählen, geschweige denn zu identifizieren vermochte. Sie wurde samt ihrem Gepäck auf dem geschäftigen, kunterbunten Kai abgeladen. Kapitän Terrence war so freundlich, sich nach einem Wagen umzusehen, der Alma in die Mission an der Matavai-Bucht bringen sollte.
    Nach den langen Monaten auf See zitterten Alma die Knie, und die Nerven gingen beinahe mit ihr durch. Ringsum sah sie Menschen jeder Couleur: Matrosen und Seeoffiziere und Kaufleute und einen Mann in Holzpantinen, der wohl ein holländischer Händler sein musste. Sie sah zwei chinesische Perlenhändler mit langen Zöpfen, die ihnen den ganzen Rücken hinunterreichten. Sie sah Eingeborene und Halbeingeborene und Gott weiß was sonst noch alles. Sie sah einen stämmigen Tahitianer in einer Kapitänsjacke aus schwerer Wolle, die er wohl von einem britischen Offizier bekommen haben musste – doch er trug dazu keine Hosen, nur einen Bastrock, und sein Oberkörper unter der Jacke war erschreckend nackt. Sie sah eingeborene Frauen, die auf unterschiedlichste Weise gekleidet waren. Manche der Älteren stellten geradezu schamlos ihre Brüste zur Schau, während die jüngeren Frauen meist lange Gewänder trugen, die an Nachthemden erinnerten, und sich das Haar zu züchtigen Zöpfen flochten. Das mussten wohl die Christinnen sein, dachte Alma. Eine Frau, die fremdartige Früchte verkaufte, hatte sich allem Anschein nach in ein Tischtuch gehüllt und trug dazu europäische Männerschuhe aus Leder, die ihr um einiges zu groß waren. Alma sah auch einen erstaunlich gekleideten Gesellen, der sich eine Art Jacke aus einer europäischen Hose fabriziert hatte, während auf seinem Kopf eine Blätterkrone prangte. Sie fand diesen Anblick höchst ungewöhnlich, doch sonst schien niemand davon Notiz zu nehmen.
    Die Eingeborenen hier waren größer als die Menschen, die Alma sonst umgaben. Manche Frauen waren beinahe so

Weitere Kostenlose Bücher