Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Lohn kosten. Um ihn zu beruhigen, versuchte Alma, ihm die Hälfte vorab zu geben. Das führte zu noch größerer Verwirrung. Kapitän Terrence hatte einen Preis ausgehandelt, doch diese Vereinbarung schien jetzt null und nichtig zu sein. Alma wollte mit amerikanischen Münzen zahlen, aber der Mann schickte sich an, ihr dafür eine Handvoll dreckiger spanischer Piaster und bolivianischer Pesos als Wechselgeld zu geben. Es war ihr schleierhaft, wie er den Wechselkurs berechnete, bis ihr klarwurde, dass er bloß seine unansehnlichen alten Münzen gegen ihre glänzenden neuen tauschen wollte.
Sie wurde im spärlichen Schatten einer Bananenplantage mitten in der Mission an der Matavai-Bucht abgesetzt. Der Fahrer stapelte ihr Gepäck zu einer ordentlichen Pyramide; es sah genauso aus wie sieben Monate zuvor, draußen vor der Remise auf White Acre. Allein zurückgeblieben, nahm Alma ihre Umgebung in Augenschein. Sie fand die Siedlung durchaus ansprechend, wenn auch bescheidener, als sie erwartet hatte. Die Kirche war ein schlichter Bau, weiß gestrichen und strohgedeckt, und ringsherum scharte sich eine kleine Ansammlung ganz ähnlicher weiß gestrichener und strohgedeckter Hütten. Insgesamt lebten hier wohl nicht mehr als ein paar Dutzend Personen.
Die Siedlung, wenn man sie so nennen konnte, lag am Ufer eines kleinen Flusses, der direkt ins Meer mündete. Er teilte den Strand, der lang und kurvig und von schwerem, schwarzem vulkanischem Sand bedeckt war, in zwei Teile. Wegen der Farbe des Sandes in der Bucht war das Meer hier nicht von jenem strahlenden Türkisblau, das man sonst mit der Südsee verbindet; es zeigte stattdessen ein gediegenes, schweres, träges Tintenblau. Gut neunhundert Fuß vom Strand entfernt, nahm ein Riff der Brandung ihre Wucht. Selbst auf diese Entfernung hörte Alma die Wellen dagegen schlagen. Sie hob eine Handvoll rußfarbenen Sand auf und ließ ihn durch die Finger rieseln. Er war wie warmer Samt und hinterließ keine Spuren an ihren Fingern.
»Die Matavai-Bucht«, sagte sie laut.
Sie konnte kaum fassen, dass sie tatsächlich hier war. Alle großen Forscher des letzten Jahrhunderts waren hier gewesen. Wallis und Vancouver und Bougainville. Kapitän Bligh hatte ein halbes Jahr lang sein Lager an diesem Strand aufgeschlagen. Doch am meisten beeindruckte Alma, dass es derselbe Strand war, an dem Kapitän Cook 1769 erstmals den Fuß auf die Insel Tahiti gesetzt hatte. Links von ihr, gar nicht weit entfernt, lag jene Landzunge, von der aus Cook die Venuspassage beobachtet hatte – jene alles entscheidende Wanderung einer kleinen schwarzen Scheibe über das Antlitz der Sonne, die zu sehen er ans andere Ende der Welt gereist war. Der freundliche kleine Fluss zu Almas Rechten war die letzte historisch belegte Grenze, die Briten und Tahitianer getrennt hatte. Gleich nach Cooks Landung hatten sich die beiden Völker an seinen beiden Ufern gegenübergestanden und einander mehrere Stunden lang mit misstrauischer Neugier beäugt. Die Tahitianer glaubten, die Briten seien direkt vom Himmel herabgesegelt, und hielten ihre gewaltigen, eindrucksvollen Schiffe für Inseln, motu , die sich von den Sternen gelöst hätten. Und die Engländer versuchten zu ergründen, ob diese Indianer womöglich angriffslustig oder gefährlich waren. Die einheimischen Frauen kamen bis an den Rand des Flusses heran und neckten die englischen Seeleute am anderen Ufer mit spielerisch aufreizenden Tänzen. Da beschloss Kapitän Cook, dass hier wohl keine Gefahr drohte, und ließ seine Männer auf die Mädchen los. Sie schenkten den Frauen Eisennägel im Austausch gegen erotische Gefälligkeiten. Die Frauen nahmen die Nägel und pflanzten sie in die Erde, in der Hoffnung, auf diese Weise noch mehr von dem kostbaren Eisen zu erhalten, so wie man Bäume aus Ablegern zieht.
Almas Vater war damals nicht mit dabei gewesen. Henry Whittaker kam erst acht Jahre später nach Tahiti, auf Cooks dritter Expedition, im August 1777. Zu dieser Zeit hatten sich Engländer und Tahitianer bereits aneinander gewöhnt – und mochten einander. Manche der britischen Seeleute hatten sogar Ehefrauen auf der Insel, die sich unter den am Hafen wartenden Frauen befanden, und auch Kinder. Die Tahitianer nannten Kapitän Cook »Toote«, weil sie seinen Namen nicht aussprechen konnten. All das wusste Alma aus Erzählungen ihres Vaters, an die sie jahrzehntelang nicht mehr gedacht hatte. Nun fielen sie ihr alle wieder ein. Ihr Vater hatte als junger Mann in
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