Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
förderten den Wissensdurst ihrer Tochter. Selbst auf ihre Pilzfrage erhielt Alma eine ernsthafte Antwort, in diesem Fall von Beatrix – mit Verweis auf den anerkannten schwedischen Systematiker der Botanik, Carl von Linné, der den Unterschied zwischen Mineralien, Pflanzen und Tieren wie folgt definiert hatte: »Steine wachsen. Pflanzen wachsen und leben. Tiere wachsen, leben und fühlen.« Ein vierjähriges Kind war nach Beatrix’ Ansicht nicht zu klein, um sich mit Carl von Linné zu befassen. So hatte Beatrix denn auch begonnen, sich Almas Schulbildung zu widmen, als ihre Tochter gerade erst aufrecht stehen konnte. Wenn andere Leute imstande waren, ihren Kleinkindern, kaum dass sie sprechen konnten, das Lispeln von Gebeten und Katechismen beizubringen, dann konnte man – davon war Beatrix fest überzeugt – ihrem Kind alles beibringen.
Infolgedessen kannte sich Alma, noch ehe sie vier Jahre alt war, mit Zahlen aus – und zwar auf Englisch, Holländisch, Französisch und Lateinisch. Das Lateinstudium erfuhr besondere Beachtung, weil Beatrix glaubte, wer die lateinische Sprache nicht beherrsche, könne niemals einen korrekten Satz auf Englisch oder Französisch zu Papier bringen. Sehr früh gab es auch schon erste, noch oberflächliche Versuche, sich mit dem Griechischen zu beschäftigen, wenn auch mit geringerem Nachdruck. Sogar Beatrix glaubte nicht, dass ein Kind einem ernsthaften Griechisch-Studium nachgehen sollte, ehe es fünf Jahre alt war. Sie gab ihrer intelligenten Tochter also Privatunterricht, und dies zu ihrer vollen Zufriedenheit. Sie hielt es für unverzeihlich, wenn Eltern ihre Kinder nicht persönlich ans Denken heranführten. Mitunter konnte sie sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass die geistigen Fähigkeiten der Menschheit seit dem zweiten Jahrhundert nach der Zeitenwende stetig nachgelassen hatten, und aus diesem Grunde genoss sie das Gefühl, in Philadelphia zum alleinigen Nutzen ihrer Tochter ein privates Lyzeum nach antikem Vorbild zu führen.
Hanneke de Groot, die Hauswirtschafterin, war der Meinung, das viele Studieren könne Almas junges, weibliches Gehirn möglicherweise überstrapazieren. Davon wollte Beatrix freilich nichts hören, denn sie selbst war nicht anders erzogen worden, wie alle Van-Devender-Kinder, ob Jungen oder Mädchen, und dies seit undenklichen Zeiten. »Sei nicht so einfältig, Hanneke«, schimpfte Beatrix. »Ein gescheites kleines Mädchen, das über reichlich Nahrung und eine gute Konstitution verfügt, geht nicht an übermäßigem Lernen zugrunde, das hat es in keinem Moment der Geschichte gegeben.«
Beatrix zog das Nützliche dem Geistlosen und das Erbauliche dem Unterhaltsamen bei weitem vor. Sie war misstrauisch gegenüber Dingen, die man als »unschuldiges Amüsement« bezeichnen könnte, und verabscheute alles, was dumm oder schnöde war. Zu dummen und schnöden Dingen zählten: Schankwirtschaften, geschminkte Frauen, Wahltage (an denen stets mit pöbelnden Massen zu rechnen war), der Verzehr von Eiscreme, der Besuch von Eiscremelokalen, Anglikaner (die sie als getarnte Katholiken empfand und deren Religion, so behauptete sie, der Moral und dem gesunden Menschenverstand widersprach), Tee (gute Holländer tranken nur Kaffee), Menschen, die im Winter keine Glöckchen an ihren Pferdeschlitten befestigten (weshalb man sie nicht herangleiten hörte!), preiswerte Hausangestellte (eine Einsparung, die sich rächte), Leute, die ihre Diener nicht mit Geld, sondern mit Rum bezahlten (und damit zur öffentlichen Trunkenheit beitrugen), Leute, die andere erst mit ihren Problemen behelligten und sich dann weigerten, vernünftigen Rat anzunehmen, Silvesterfeiern (das neue Jahr kam so oder so, auch ohne großes Glockengeläut), die Aristokratie (Adel sollte eine Frage der Haltung, nicht des Erbens sein) und zu viel des Lobes für Kinder (gutes Benehmen sollte man erwarten, nicht belohnen).
Sie machte sich das Motto Labor ipse voluptas zu eigen – die Arbeit ist sich selbst Lohn genug.
Gleichgültige Distanz gegenüber Gefühlen war in ihren Augen eine Haltung, der eine besondere Würde innewohnte. Ja, im Grunde war diese Haltung der Inbegriff von Würde. Vor allem aber glaubte Beatrix Whittaker an Ehrbarkeit und Moral, wobei sie – vor die Wahl gestellt – wahrscheinlich der Ehrbarkeit den Vorrang gegeben hätte.
Dies alles bemühte sie sich, ihrer Tochter beizubringen.
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Was nun Henry Whittaker betraf, so konnte er seiner Frau beim Unterrichten der
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