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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Beduinen in der Wüste Edelsteine unter die Haut nähten, für Notfälle. Er erzählte ihr, dass auch er sich am Bauch einen südamerikanischen Smaragd unter die lose Haut genäht habe, und wer nichts davon wisse, würde denken, es sei die Narbe einer Schussverletzung – nie im Leben würde er sie ihr zeigen, doch der Smaragd sei wirklich da.
    »So ein letztes Bestechungsgeld braucht man, Plum«, sagte er.
    Auf dem Schoß ihres Vaters erfuhr Alma, dass Henry mit einem bedeutenden Mann namens Kapitän Cook um die Welt gereist war. Das waren die allerbesten Geschichten. Einmal war ein riesiger Wal mit aufgerissenem Maul aus dem Ozean aufgetaucht, und Kapitän Cook hatte das Schiff direkt in den Wal hineingesteuert, hatte sich einmal in seinem Bauch umgeschaut und war wieder hinausgesegelt – rückwärts! Ein anderes Mal hatte Henry auf dem Meer ein Weinen gehört und eine Seejungfrau erblickt, die auf dem Wasser trieb. Ein Hai hatte die Seejungfrau verletzt. Henry zog sie mit einem Seil an Bord, und sie starb in seinen Armen. Doch vorher, bei Gott, vorher hatte sie Henry Whittaker noch gesegnet und ihm gesagt, dass er eines Tages ein reicher Mann werden würde. Und so war er an dieses große Haus gekommen – weil ihm die Seejungfrau ihren Segen erteilt hatte!
    »Welche Sprache hat die Seejungfrau gesprochen?«, wollte Alma wissen. Ihrer Vorstellung nach musste es so etwas wie Griechisch gewesen sein.
    »Englisch!«, antwortete Henry. »Mein Gott, Plum, warum zum Teufel sollte ich eine ausländische Seejungfrau retten!«
    Alma empfand eine fast ehrfürchtige Bewunderung für ihre Mutter, doch ihren Vater betete sie an. Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt. Sie liebte ihn mehr als Soames, das Pony. Ihr Vater war ein Koloss, zwischen dessen riesigen Beinen sie hervorlugte und sich die Welt ansah. Im Vergleich zu Henry war der himmlische Vater langweilig und sehr weit weg. Doch wie Gottvater aus der Bibel stellte auch Henry Almas Liebe hin und wieder auf die Probe, vor allem dann, wenn die Flaschen geöffnet waren. »Plum«, sagte er beispielsweise. »Warum läufst du nicht, so schnell dich deine spindeldürren Beine tragen, runter zum Anleger und schaust mal nach, ob für deinen Papa Schiffe aus China gekommen sind?«
    Bis zum Anleger waren es sieben Meilen, und der Weg führte über einen Fluss. Es konnte neun Uhr abends sein, Sonntag, und draußen ein bitterkalter Märzsturm wüten – Alma sprang trotzdem vom Schoß ihres Vaters und rannte los. Ein Diener musste sie an der Tür abfangen und in den Salon zurücktragen, sonst hätte sie es wahrhaftig getan, mit ihren sechs Jahren, ohne Mantel und Mütze, ohne einen Penny in der Tasche oder auch nur das kleinste bisschen Gold im Rocksaum.
    •
    Welch eine Kindheit verlebte dieses Mädchen!
    Denn Alma hatte nicht nur ihre starken, klugen Eltern, sondern auch White Acre, das Anwesen, das sie nach Lust und Laune erkunden konnte. Ein wahres Arkadien. Es gab dort so viel zu entdecken. Allein das Haus war eine schier unerschöpfliche Quelle von kleinen und großen Wundern: Im Ostpavillon die ausgestopfte Giraffe mit ihrem drolligen, erschrockenen Gesicht. Im vorderen Atrium die drei gewaltigen Mastodon-Rippen, ausgegraben in einem nahe gelegenen Feld – Henry hatte sie bei einem einheimischen Bauern gegen ein neues Gewehr eingetauscht. Dann der Tanzsaal, gleißend und leer, wo Alma im kalten Spätherbst eine Begegnung mit einem eingeschlossenen Kolibri hatte, der an ihrem Ohr vorbeischnellte wie ein mit Edelsteinen besetztes Geschoss, abgefeuert aus einer winzigen Kanone. Im Arbeitszimmer ihres Vaters gab es den Käfig mit dem Maina, einem Vogel, der aus dem fernen China kam und (wie Henry behauptete) mit leidenschaftlicher Eloquenz sprechen konnte, allerdings nur in seiner Muttersprache. Es gab seltene Schlangenhäute, mit Heu und Sägespänen gefüllt. Es gab Regale, auf denen sich Südseekorallen, Götzenfiguren aus Java, alter ägyptischer Lapislazuli-Schmuck und staubige türkische Almanache türmten.
    Und es gab so viele Orte, an denen man essen konnte! Das Speisezimmer, das Gesellschaftszimmer, die Küche, den Salon, das Studierzimmer, den Wintergarten und die Veranden mit ihren schattigen Lauben. Es gab Mittagsmahlzeiten mit Tee und Ingwerkuchen, Maronen und Pfirsichen (und was für welchen: Pfirsiche mit einem rosafarbenen und einem goldenen Bäckchen!). Im Winter konnte man oben im Kinderzimmer Suppe essen und auf den Fluss hinabschauen, der unter dem kahlen

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