Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
Klassiker selbstverständlich nicht beispringen, doch er war Beatrix für ihre erzieherischen Bemühungen dankbar. Als kluger, wenn auch ungebildeter Mann der Botanik hatte er das Griechische und Lateinische immer als zwei riesige Eisenstreben empfunden, die ihm den Zugang zum Wissen versperrten. Er wollte nicht, dass seine Tochter in gleicher Weise davon ausgeschlossen blieb. Er wollte nicht, dass sein Kind von irgendetwas ausgeschlossen blieb.
    Doch was brachte Henry Alma bei? Nun, er brachte ihr nichts bei. Will sagen, dass er ihr nichts auf direktem Wege beibrachte. Er war nicht geduldig genug, ihr Unterricht im eigentlichen Sinne zu erteilen, und er umgab sich nicht gern mit Kindern. Was Alma jedoch auf indirektem Wege von ihrem Vater lernte, war eine Vielzahl von Dingen. Zuerst und vor allem lernte sie, ihn nicht zu reizen. Sobald sie ihn reizte, wurde sie aus dem Zimmer verbannt, und so hatte sie, kaum dass ein erstes, verschwommenes Bewusstsein in ihr erwacht war, gelernt, Henry niemals zu provozieren und niemals seinen Unmut zu erregen. Für Alma eine Herausforderung, denn es bedeutete, dass sie ihre natürlichen Instinkte unterdrücken musste, waren doch ausgerechnet diese dazu angetan, sehr wohl seinen Unmut zu erregen. Sie lernte allerdings auch, dass ihr Vater gegen eine ernsthafte, interessante oder gut formulierte Frage wenig einzuwenden hatte, solange sie ihn damit nicht bei einem Vortrag oder (schlimmer noch) beim Nachdenken unterbrach. Manchmal amüsierten ihn ihre Fragen sogar, auch wenn sie den Grund nicht immer verstand – etwa als sie einmal wissen wollte, warum das Schwein, wenn es der Schweinefrau auf den Rücken stieg, so lange brauchte, während der Bulle bei den Kühen immer so schnell war. Diese Frage brachte Henry zum Lachen. Alma wurde nicht gerne ausgelacht. Sie lernte, solche Fragen kein zweites Mal zu stellen.
    Alma lernte auch, dass ihr Vater ungeduldig mit seinen Arbeitern, seinen Gästen, seiner Frau, ihr selbst und sogar seinen Pferden war, bei Pflanzen jedoch niemals die Beherrschung verlor. Im Umgang mit den Pflanzen war er stets freundlich und nachsichtig. Manchmal wünschte sich Alma, sie wäre eine Pflanze. Über diese Sehnsucht sprach sie allerdings nie, denn damit hätte sie sich lächerlich gemacht, und sie hatte von Henry gelernt, dass man sich niemals lächerlich machen durfte. »Die Welt ist eine Närrin, die hereingelegt werden will«, sagte er häufig und hatte seiner Tochter eingebläut, dass es Narren und Schlaue gab, was ein Riesenunterschied war, und dass man es so einrichten musste, auf der Seite der Schlauen zu stehen. Sehnsucht nach etwas zu zeigen, das man nicht haben konnte, war zum Beispiel gar nicht schlau.
    Alma lernte von Henry, dass es ferne Orte auf dieser Welt gab, wohin Männer reisten und nie wieder zurückkehrten, dass ihr Vater jedoch zu diesen Orten gereist und sehr wohl zurückgekehrt war. Gern stellte sie sich vor, dass er für sie heimgekehrt war, um ihr Papa zu werden, obwohl er so etwas nie angedeutet hatte. Sie lernte, dass Henry sich auch von ihr wünschte, tapfer zu sein, sogar angesichts wirklich beängstigender Dinge: Donner, Hochwasser am Schuylkill River, Gänse, die einem nachjagten, oder der Affe mit der Kette um den Hals, der im Wagen des Kesselflickers mitreiste. Nichts davon durfte ihr Angst machen. Und noch ehe sie richtig begriff, was der Tod eigentlich bedeutete, hatte ihr Henry auch schon verboten, Angst davor zu haben.
    »Jeden Tag sterben Menschen«, erklärte er ihr. »Aber die Chancen stehen eins zu achttausend, dass du nicht darunter bist.«
    Sie lernte, dass es Wochen gab – insbesondere die verregneten –, in denen ihr Vater in einer Weise von seinem Körper gepeinigt wurde, die kein Mann der Christenheit verdient hatte. Ständig quälten ihn Schmerzen in dem Bein, dessen Knochen einmal gebrochen und schlecht gerichtet worden war, und er litt unter wiederkehrenden Schüben eines Fiebers, das er sich in der fernen, gefährlichen Welt zugezogen hatte. Es gab Zeiten, da war Henry einen halben Monat lang bettlägerig. Dann durfte man ihn keinesfalls belästigen. Selbst wenn man ihm Briefe brachte, musste man leise und vorsichtig sein. Diese Unpässlichkeiten waren der Grund, warum Henry nicht mehr reisen konnte und stattdessen die Welt zu sich kommen ließ. Sie waren der Grund, warum so viele Besucher in White Acre erschienen und warum im Salon und am Tisch des Speisezimmers so viele Geschäfte getätigt wurden. Sie

Weitere Kostenlose Bücher