Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
ununterbrochen mit ihm. Er tat absolut alles für sie, nur galoppieren wollte er nicht.
In ihrem neunten Sommer brachte sich Alma ohne jede Hilfe bei, wie man am Öffnen und Schließen der Blüten die Uhrzeit erkennen konnte. Sie hatte beobachtet, dass sich um fünf Uhr morgens die Blütenblätter des Bocksbarts entfalteten. Um sechs Uhr gingen die Gänseblümchen und Trollblumen auf. Wenn die Uhr sieben schlug, blühte der Löwenzahn. Um acht Uhr war der Rote Gauchheil an der Reihe. Neun Uhr: die Sternmiere. Zehn Uhr: die Zeitlosen. Ab elf Uhr begann sich der Vorgang umzukehren. Mittags ging der Bocksbart zu. Um ein Uhr schloss sich die Sternmiere. Um drei Uhr hatte der Löwenzahn seine Blüten geschlossen. Wenn Alma bis fünf Uhr nicht mit gewaschenen Händen wieder zu Hause war – also dann, wenn die Trollblumen zugingen und die Nachtkerzen ihre Blüten zu öffnen begannen –, musste sie mit Unannehmlichkeiten rechnen.
Wie wurde das alles gesteuert? Nichts hätte Alma lieber gewusst. Welchem unsichtbaren Uhrwerk gehorchte die Welt? Sie nahm Blumen auseinander und erforschte ihre innere Struktur. Dasselbe tat sie mit Insekten und jedem Kadaver, den sie fand. Als Alma eines Morgens, es war Ende September, einen Krokus erblickte, eine Blume, von der sie bis dahin geglaubt hatte, sie würde nur im Frühling blühen, war sie fasziniert. Welch eine Entdeckung! Doch niemand konnte ihr eine befriedigende Antwort auf die Frage geben, was sich diese Blume dabei gedacht hatte, ausgerechnet zum kühlen Herbstbeginn in Erscheinung zu treten, blätter- und schutzlos, genau dann, wenn um sie herum alles im Sterben begriffen war. »Es sind Herbstkrokusse«, erklärte ihr Beatrix. Ja, natürlich, ganz offensichtlich, aber warum? Weshalb blühten sie gerade jetzt? Waren diese Blumen dumm? Hatten sie ihr Zeitgefühl verloren? Welcher wichtigen Verpflichtung musste dieser Krokus nachkommen, dass er es in Kauf nahm, in den ersten bitterkalten Frostnächten Blüten zu tragen? Niemand konnte sie aufklären. »So verhält sich diese Pflanzenart einfach«, sagte Beatrix, was Alma als eine ungewöhnlich unbefriedigende Antwort empfand. Und als Alma weiterbohrte, erwiderte Beatrix: »Nicht auf alle Fragen gibt es eine Antwort.«
Dies war für Alma eine so niederschmetternde Nachricht, dass es ihr für mehrere Stunden die Sprache verschlug. Wie vor den Kopf geschlagen saß sie da und dachte bestürzt nach. Als sie sich gefangen hatte, zeichnete sie den rätselhaften Herbstkrokus in ihr Notizbuch, schrieb ihre Fragen und Einwände darunter und datierte den Eintrag. Gewissenhaft. Alles musste aufgezeichnet werden, auch Dinge, die man nicht verstand. Beatrix hatte sie angeleitet, ihre Funde so präzise, wie es irgend ging, in Zeichnungen festzuhalten, wenn möglich mit der korrekten Klassifizierung.
Das Zeichnen selbst machte Alma Freude, das Ergebnis empfand sie hingegen häufig als enttäuschend. Tiere und Gesichter zu malen war ihr völlig unmöglich (sogar ihre Schmetterlinge sahen verheerend aus), sie kam allerdings zu dem Schluss, dass sie bei Pflanzen alles in allem keine so üble Zeichnerin war. Ihre ersten echten Erfolge waren einige gute Zeichnungen von Dolden, jenen hohlstieligen Schirmblütlern aus der Familie der Möhren. Ihre Dolden waren präzise, nur hätte sie sich eigentlich erhofft, sie wären mehr als das; sie wünschte sich, sie wären schön. Als sie dies ihrer Mutter sagte, wurde sie verbessert: »Schönheit ist nicht erforderlich. Die Schönheit lenkt nur von der Präzision ab.«
Bei ihren Streifzügen durch den Wald begegnete Alma hin und wieder anderen Kindern. Das ängstigte sie jedes Mal. Sie wusste, wer diese Eindringlinge waren, obgleich sie nie mit ihnen sprach. Es waren die Kinder der Angestellten ihrer Eltern. White Acre war ein gigantisches, lebendiges Ungetüm, dessen eine Körperhälfte komplett von den Bediensteten in Anspruch genommen wurde: den aus Deutschland und Schottland stammenden Gärtnern, die ihr Vater den im Lande geborenen, fauleren Amerikanern vorzog, und den aus Holland stammenden Dienstmädchen, auf welche die Mutter beharrte und sich verließ. Die Hausangestellten wohnten im Dachgeschoss, während die außerhalb des Gebäudes tätigen Arbeiter und ihre Familien über das ganze Besitztum verstreut in kleinen Häusern und Hütten wohnten. Es waren recht hübsche Häuschen, nicht weil Henry die Unterbringung seiner Arbeiter am Herzen lag, sondern weil er den Anblick von Elend nicht
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