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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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werden. Es gab eben bedeutende Wissenschaftler, so Henrys Kommentar, die nicht imstande waren, ihre Theorien gegenüber einem kleinen Mädchen zu verteidigen, und dann hatten sie es auch verdient, als Schwindler entlarvt zu werden.
    Nach Henrys Auffassung war kein Thema zu düster, zu schwierig oder zu beunruhigend, um in Anwesenheit seines Kindes erörtert zu werden. Beatrix pflichtete ihm in diesem Punkt energisch bei. Wenn Alma nicht begriff, worüber gesprochen wurde, so Beatrix’ Meinung, dann war dies ein Grund mehr für das Kind, seinen Verstand zu schärfen, um beim nächsten Mal besser mithalten zu können. Hatte Alma nichts Intelligentes zum Gespräch beizutragen, sollte sie demjenigen, der zuletzt gesprochen hatte, einfach zulächeln und höflich »Fahren Sie fort« sagen. Und falls sie sich bei Tisch langweilte, nun, damit musste sie selbstverständlich allein zurechtkommen. Dinnerveranstaltungen in White Acre dienten nicht der Belustigung eines Kindes (wobei es in Beatrix’ Augen ohnehin herzlich wenig Dinge im Leben gab, die der Belustigung eines Kindes dienen sollten), und je schneller Alma lernte, stundenlang still auf einem Stuhl mit harter Lehne zu sitzen und Gedanken zu lauschen, die weit über ihren Verstand gingen, desto besser. So verbrachte Alma ihre zarten Kinderjahre damit, sich die außergewöhnlichsten Gespräche anzuhören – mit Männern, welche die Zersetzung menschlicher Überreste erforschten, Männern, die davon sprachen, neuartige belgische Feuerwehrschläuche nach Amerika zu importieren, Männern, die monströse Missbildungen in medizinischen Zeichnungen festhielten, Männern, die davon überzeugt waren, dass jede Arznei, die man schlucken konnte, ebenso gut in die Haut eingerieben und somit vom Körper aufgenommen werden konnte, Männern, die organisches Material in Schwefelquellen untersuchten, und mit einem Mann, der Experte für die Lungenfunktion von Wasservögeln war (ein Sujet, von dem er behauptete, es sei von atemberaubendem Interesse und spannender als jedes andere Thema der Natur, wobei sein sich anschließender monotoner Vortrag diese Behauptung nicht untermauern konnte).
    Manche Abende waren unterhaltsam für Alma. Am schönsten fand sie es, wenn Schauspieler und Entdecker kamen und ihre mitreißenden Geschichten erzählten. Andere Abende waren aufgeladen mit Streit. Wieder andere waren Ewigkeiten, mit nichts als quälender Langeweile gefüllt. Manchmal schlief sie mit offenen Augen am Tisch ein, und einzig das steife Korsett ihres Gesellschaftskleids und die Angst vor dem mütterlichen Tadel gaben ihr noch Halt auf dem Stuhl. Doch der Abend, den Alma nie vergessen würde – ein Abend, den sie später als Höhepunkt ihrer Kindheit empfand –, war jener, an dem der italienische Astronom zu Besuch kam.
    •
    Es war der Spätsommer des Jahres 1808 , und Henry Whittaker hatte sich ein neues Teleskop gekauft. Durch die ausgezeichneten optischen Linsen aus Deutschland hatte er den Nachthimmel bewundert, doch allmählich beschlich ihn das Gefühl, dass er ein astronomischer Analphabet war. Er hatte das Wissen eines Seemanns – was ja an sich schon viel wert war –, doch er war nicht auf der Höhe der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Auf dem Gebiet der Astronomie wurden gewaltige Fortschritte erzielt, und Henry hatte zunehmend das Gefühl, der Nachthimmel könne die nächste Bibliothek sein, die ihm verschlossen blieb. Als Pontesilli, der brillante italienische Astronom, nach Philadelphia kam, um vor der Philosophischen Gesellschaft zu sprechen, lockte er ihn deshalb mit einem eigens für ihn veranstalteten Ball nach White Acre. Pontesilli stand im Ruf, ein begeisterter Tänzer zu sein, und Henry ahnte, dass er einem Ball nicht widerstehen konnte.
    Ein aufwendigeres Projekt hatten die Whittakers noch nie in Angriff genommen. Am frühen Nachmittag trafen die besten Gastronomen von Philadelphia mit Schwarzen in weißen, adretten Uniformen ein und begannen, kunstvolle Baisers und farbenprächtigen Punsch herzustellen. Tropische Blumen, die ihre duftenden Treibhäuser noch nie verlassen hatten, wurden im ganzen Herrenhaus zu wunderbaren Tableaus arrangiert. Im Ballsaal machte sich plötzlich ein Orchester zu schaffen: fremde, mürrische Menschen, die ihre Instrumente stimmten und leise über die Hitze schimpften. Alma wurde von Kopf bis Fuß abgeschrubbt, in weiße Reifröcke gesteckt und ihr widerspenstiger roter Schopf in eine Satinschleife gezwängt,

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