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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Himmel glitzerte wie ein polierter Spiegel.
    Und draußen erst! Was es dort zu entdecken gab, war noch phantastischer und voller Rätsel. Die prächtigen Gewächshäuser mit ihren Cycadeen, Palmen und Farnen, zum Warmhalten in schwarze, stinkende Gerberlohe gepackt. Die laute, furchteinflößende Wassermaschine, welche die Glashäuser feucht hielt. Die geheimnisvollen Treibhäuser – so heiß, dass einem die Sinne schwanden –, wo sich zarte Importpflanzen nach langer Seereise erholen durften und Orchideen zum Blühen verleitet wurden. Die Orangerie mit ihren Zitronenbäumen, die jeden Sommer wie schwindsüchtige Patienten auf Rollen ins Freie geschoben wurden, um die natürliche Sonne zu genießen. Oder der kleine griechische Tempel, verborgen am Ende einer Eichenallee, in dem man sich dem Olymp nahe glaubte.
    Und dann gab es auch noch die Molkerei, und gleich daneben die Käserei mit ihrem faszinierenden Hauch von Alchemie, Aberglauben und Zauberei. Die deutschen Milchmägde zeichneten Drudenfüße mit Kreide auf die Eingangstür, und ehe sie das Gebäude betraten, murmelten sie jedes Mal Beschwörungsformeln. Der Käse werde nicht fest, so erklärten sie Alma, wenn er vom Teufel verflucht sei.
    Als Alma ihre Mutter danach fragte, wurde sie für ihre Ahnungslosigkeit und Blauäugigkeit gescholten und erhielt einen langen Vortrag darüber, wie der Käse in Wirklichkeit fest wurde. Wie sich herausstellte, war es eine vollkommen rationale chemische Umwandlung von frischer, mit Lab behandelter Milch, die man bei geregelten Temperaturen reifen ließ. Nach erteilter Lektion wischte Beatrix die Drudenfüße von der Käsereitür und beschimpfte die Milchmägde als abergläubische Dummerchen. Am nächsten Tag sah Alma, dass die Kreidezeichen wieder da waren. Der Käse jedenfalls wurde – wie auch immer – weiterhin fest.
    Weiter draußen lagen die endlosen Waldgebiete, die absichtlich nicht bewirtschaftet wurden. Dort wimmelte es von Kaninchen, Füchsen und Rotwild, das einem aus der Hand fraß. Alma durfte – nein, sollte! – diese Waldflächen nach Lust und Laune durchstreifen, um die Natur kennenzulernen. Sie sammelte Käfer, Spinnen und Motten. Sie sah zu, wie eine große, gestreifte Schlange von einer noch viel größeren schwarzen Schlange bei lebendigem Leibe gefressen wurde, ein Vorgang, der mehrere Stunden dauerte und ein ebenso spektakuläres wie schreckliches Schauspiel war. Sie sah, wie Tigerspinnen tiefe Röhren in den Waldboden gruben und wie Rotkehlchen am Flussufer Moos und Schlamm für ihre Nester sammelten. Sie erklärte eine vergleichsweise hübsche kleine Raupe zu ihrer Freundin und wickelte sie in ein Blatt, um sie mit nach Hause zu nehmen, wo ausgerechnet Alma der Raupe bald darauf zum Verhängnis wurde, weil sie sich versehentlich daraufsetzte. Es war ein schwerer Schlag, doch das Leben ging weiter. »Hör auf zu weinen, das Leben geht weiter«, lautete denn auch der Kommentar ihrer Mutter. Tiere starben, so erklärte man ihr. Und manche Tiere wie Schafe und Kühe kamen sogar einzig und allein zum Sterben auf die Welt. Man konnte nicht um jeden Todesfall trauern. So hatte Alma im Alter von acht Jahren mit Beatrix’ Unterstützung bereits den Kopf eines Lämmchens seziert.
    Wenn Alma in den Wald ging, war sie stets zweckmäßig gekleidet und mit der eigens für sie angeschafften Ausrüstung bewaffnet, die aus Glasfläschchen, kleinen Verwahrschachteln, Watte und Notizbuch bestand. Sie ging bei jedem Wetter los, man konnte schließlich bei jedem Wetter auf begeisternswerte Dinge stoßen. Ein Schneesturm Ende April bescherte ihr einmal ein ungewöhnliches Klangerlebnis, eine Mischung aus Schlittengeläut und Vogelgesang, und allein dafür hatte es sich gelohnt, das Haus zu verlassen. Sie lernte, dass es den eigenen Nachforschungen wenig zugutekam, beim Waten durch Schlamm auf Stiefel und Rocksäume Rücksicht zu nehmen. Für verdreckte Stiefel wurde sie nicht gescholten, solange sie mit guten Pflanzenproben für ihr Herbarium nach Hause kam.
    Almas ständiger Begleiter auf diesen Streifzügen war das Pony Soames, das sie durch den Wald trug oder hinter ihr hertrottete wie ein großer, wohlerzogener Hund. Zum Schutz gegen die Eintagsfliegen schmückten im Sommer prächtige Seidentroddeln seine Ohren, und im Winter lag ein Fell unter dem Sattel. Pflanzenproben fraß er nur ab und zu. Für eine Pflanzensammlerin war Soames der beste Gefährte, den man sich denken konnte, und Alma redete

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