Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
ertrug.
Wenn Alma den Arbeiterkindern im Wald begegnete, packte sie jedes Mal das blanke Entsetzen. Sie hatte allerdings eine Methode, diese Begegnungen zu überstehen: Sie tat so, als gäbe es keine Begegnung. Auf ihrem treuen Pony, das wie immer in unbeteiligtem Schneckentempo dahertrottete, ritt sie nicht nur an den Kindern vorbei, sondern gewissermaßen über sie hinweg. Währenddessen hielt sie die Luft an und schaute weder nach links noch nach rechts, bis sie die Kinder hinter sich gelassen hatte. Wenn sie nicht hinsah, brauchte sie auch nicht an ihre Existenz zu glauben.
Die Arbeiterkinder belästigten Alma nie. Wahrscheinlich hatte man sie ermahnt, Alma in Ruhe zu lassen. Alle hatten Angst vor Henry Whittaker, also hatte man unwillkürlich auch vor der Tochter Angst. Doch manchmal beobachtete Alma die Kinder heimlich, aus sicherem Abstand. Ihre Spiele waren ruppig und unverständlich. Sie kleideten sich anders als Alma. Keins dieser Kinder hatte eine botanische Ausrüstung geschultert, und keins von ihnen ritt auf einem Pony mit farbenfrohen Ohrtroddeln aus Seide. Sie schubsten sich, riefen sich derbe Worte zu. Alma hatte vor nichts auf der Welt mehr Angst als vor diesen Kindern. Oft tauchten sie in ihren Alpträumen auf.
Und was tat man, wenn man Alpträume hatte? Man tappte ins Untergeschoss des Hauses, hin zu Hanneke de Groot. Ab und zu konnte das hilfreich und trostbringend sein. Hanneke de Groot, die Hauswirtschafterin, hatte alle Vollmachten über den Kosmos von White Acre, und diese Machtfülle verlieh ihr eine beruhigende Würde und Erhabenheit. Hanneke hatte ihre eigene Unterkunft gleich neben der unterirdischen Küche, dort, wo das Feuer nie ausging. Sie schlief in einer warmen Blase aus Kellerluft, in die sich der Duft der gesalzenen Schinken mischte, die an den Balken hingen. Hanneke lebte wie in einem Käfig – so empfand es zumindest Alma –, denn ihre privaten Zimmer hatten Gitter vor den Fenstern und Türen, weil Hanneke das Tafelsilber und Tafelgold des Hauses bewachte und zudem für sämtliche Gehaltsabrechnungen verantwortlich war.
»Ich lebe doch nicht in einem Käfig«, widersprach sie Alma einmal. »Ich lebe in einem Banktresor.«
Wenn Alma Alpträume hatte und nicht wieder einschlafen konnte, nahm sie mitunter tapfer den schrecklichen Abstieg über drei dunkle Treppen in Kauf, bis sie den hintersten Kellerwinkel erreichte, wo sie an Hannekes Türgitter geklammert weinend um Einlass bat. Solche Expeditionen waren immer ein Glücksspiel. Manchmal erhob sich Hanneke schläfrig, sperrte murrend ihre Kerkermeistertür auf und erlaubte Alma, zu ihr ins Bett zu kriechen. Manchmal aber auch nicht. Manchmal schalt sie Alma ein Baby und schimpfte, warum man eine müde Holländerin nicht in Ruhe lassen könne, und dann schickte sie Alma die schreckliche, dunkle Treppe wieder hinauf, zurück in ihr Zimmer.
Für die seltenen Nächte, in denen sie tatsächlich zu Hanneke ins Bett krabbeln durfte, lohnte es sich jedoch, zehn Mal vertrieben zu werden, denn dann erzählte Hanneke Geschichten, und was für Geschichten! Hanneke kannte Almas Mutter seit Ewigkeiten, seit ihrer frühesten Kindheit. Sie erzählte von Amsterdam, was Beatrix nie tat. Weil Hanneke mit Alma stets Holländisch sprach, war und blieb das Holländische für Alma die Sprache des Trostes, der Banktresore, des gesalzenen Schinkens und der Geborgenheit.
Wenn Alma nachts Zuspruch brauchte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, zu ihrer Mutter zu laufen, deren Zimmer gleich neben ihrem lag. Almas Mutter war eine Frau mit vielen Gaben, doch die Gabe des Trostes war ihr nicht beschieden. Ein Kind, das alt genug war, um zu laufen, zu sprechen und logisch zu denken, hörte man Beatrix Whittaker häufig sagen, sollte in der Lage sein, sich selbst zu trösten.
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Und dann gab es noch die Gäste: ein ununterbrochener Aufmarsch von Besuchern, die in Kutschen, auf Pferderücken, mit dem Schiff oder zu Fuß beinahe täglich auf White Acre eintrafen. Weil Almas Vater in ständiger Angst vor Langeweile lebte, bat er gern Menschen an seinen Esstisch, die imstande waren, ihn mit Neuigkeiten aus aller Welt zu unterhalten oder zu unternehmerischen Experimenten anzuregen.
»Je mehr Geld du hast«, erklärte er seiner Tochter, »desto besser werden die Umgangsformen der Leute. Das ist eine bemerkenswerte Tatsache.«
Zu diesem Zeitpunkt besaß Henry eine beträchtliche Menge Geld. Im Mai des Jahres 1803 hatte er einen Vertrag mit einem Mann
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