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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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waren so angelegt, dass sie haargenau den euklidischen Symmetrieprinzipien entsprachen. Auch der Handarbeit mussten sich die Mädchen zur Verbesserung ihrer Fähigkeiten mehrere Stunden pro Woche widmen. Abends wurden Alma und Prudence zum Dinner gebeten, um mit Gästen aus aller Welt intelligente Konversation zu betreiben. Wenn keine Gäste nach White Acre kamen, verbrachten die beiden ihre Abende bis spät in die Nacht im Salon, wo sie ihre Eltern bei der Erledigung offizieller Korrespondenz unterstützten. Die Sonntage gehörten der Kirche. Ein langer Kanon von Abendgebeten begleitete das Zubettgehen.
    Abgesehen davon, konnten sie über ihre Zeit frei verfügen.
    •
    Doch so anstrengend war der Stundenplan eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht für Alma. Sie war eine energiegeladene, einnehmende junge Dame, die keine langen Ruhepausen brauchte. Sie hatte Freude an allem: der geistigen Arbeit, der Gartenarbeit und auch den Gesprächen bei den abendlichen Versammlungen in White Acre. Zudem war sie glücklich, wenn sie ihrem Vater bis spät in die Nacht bei seiner Korrespondenz helfen konnte, inzwischen nahezu die einzige Gelegenheit für Momente der Zweisamkeit mit ihm. Irgendwie gelang es ihr sogar noch, Zeit für sich zu finden, und in diesen Stunden arbeitete sie an kleinen botanischen Projekten, die sie sich selbst ausdachte. Sie experimentierte mit unterschiedlichen Weidenstecklingen und brütete darüber, warum sich manchmal an den Knospen und manchmal an den Blättern Würzelchen bildeten. Alle Pflanzen in ihrem Umfeld sezierte und klassifizierte Alma. Sie legte einen schönen hortus siccus an, ein wunderbares kleines Herbarium.
    Alma liebte die Botanik, wobei sie sich weniger von der Schönheit der Pflanzen angezogen fühlte als von der magischen Ordnung des Pflanzensystems. Sie hegte eine grenzenlose Begeisterung für Systeme, Register, Reihen und Karteien, und die Botanik bot ihr für solche Amüsements reichlich Gelegenheit. Wenn man eine Pflanze erst einmal der richtigen taxonomischen Kategorie zugeordnet hatte, hielt sie sich an diese Ordnung, und das schätzte Alma. Außerdem gehorchte die Symmetrie der Pflanzen mathematischen Gesetzen, was sie bewunderte und zugleich als beruhigend empfand. Bei jeder Spezies stand zum Beispiel die Anzahl der Kelchzipfel in einem festen Größenverhältnis zu den Einteilungen der Korolla, und dieses Verhältnis änderte sich nie. Es war ein ehernes, zeitloses, tröstliches Gesetz.
    Wenn überhaupt, dann hätte sich Alma gewünscht, mehr Zeit für das Studium der Pflanzen zu haben. Sie hätte sich gewünscht, in einer naturwissenschaftlichen Kaserne zu leben, wo man bei Tagesanbruch, von einem Trompetensignal geweckt, mit anderen jungen, uniformierten Naturforschern in Reih und Glied losmarschierte, um den ganzen Tag an Bächen, in Wäldern und Labors zu arbeiten. Sie hätte sich gewünscht, gemeinsam mit anderen leidenschaftlichen Systematikern in einem botanischen Kloster oder einer Art botanischem Ordenshaus Unterschlupf zu finden, wo man ungestört studieren und die aufregendsten Entdeckungen miteinander teilen könnte. Sogar ein Botaniker-Gefängnis wäre schön gewesen! Es kam Alma nicht in den Sinn, dass solche intellektuellen Zufluchtsorte, abgeschottet und von Mauern umgeben, in gewisser Weise unter der Bezeichnung »Universität« bereits existierten. Doch im Jahre 1810 träumten kleine Mädchen nicht von Universitäten. Nicht einmal kleine Whittaker-Mädchen.
    Es machte Alma also nichts aus, hart zu arbeiten. Nur gegen den Freitag hegte sie eine unverhohlene Abneigung. Zeichenunterricht, Tanzunterricht, Musikunterricht – für sie eine lästige Strapaze, die sie von ihren wahren Interessen fernhielt. Sie war nicht anmutig. Selbst berühmte Gemälde vermochte sie nicht zuverlässig voneinander zu unterscheiden, und alle Gesichter, die sie zeichnete, sahen verängstigt aus oder einfach nur leblos. Sie lernte es einfach nicht. Auch das Musizieren lag ihr nicht, und als sie elf wurde, bat ihr Vater in aller Form darum, sie möge aufhören, das Pianoforte zu quälen. Bei all diesen Tätigkeiten tat sich Prudence hervor. Prudence konnte auch wunderbar nähen oder mit meisterhafter Eleganz ein Teeservice handhaben. Auf diesem Terrain hatte sie ärgerlicherweise viele kleine Begabungen. An Freitagen war immer damit zu rechnen, dass Alma die finstersten, missgünstigsten Gefühle für ihre Schwester überkamen. So gab es Momente, in denen sie ernsthaft darüber

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